Maiglöckchengeflüster: Unser Leserückblick auf den Mai 2023

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Ähnlich wie die Frühlingsblüher und Blätter der Bäume sich in diesem Monat gänzlich vom Winterschlaf befreit haben und einen Neubeginn hinlegen, so haben auch wir in diesem Monat einige Neuerscheinungen besprochen. Gleichzeitig sind wir in die Zeit gereist. Seht selbst:

Unser Leserückblick

„Wie ich einmal lebte“ von Ahne (Aline)

erschienen bei Voland und Quist im April 2023

Ahne erblickte am 5. Februar 1968 in Ost-Berlin das Licht der Welt, 55 Jahre später sein autobiografischer Roman. In der Zwischenzeit ist viel passiert, vor allem die Wiedervereinigung Deutschlands. Was für den einen das große Glück war, ist für den anderen Pech. Ahne bewegt sich vielleicht irgendwo dazwischen, denn nach eigenen Angaben verliert er zwar seinen Job als Offset-Drucker, doch findet er ein Haus, dass er besetzten kann. Jahre später verzichtet er als Künstler und Autor auf die Nennung seines Nachnamen, vielleicht haben auch einfach zu viele Fans der Berliner Reformbühne Heim und Welt an seiner Tür geklingelt, wo er regelmäßig auftritt. In seiner Autobiografie geht es in jedem Fall nicht darum, was in der Nachwendezeit passiert ist, sondern viel mehr, wie es Ahne bis dahin geschafft hat. In seiner kindlichen Fantasie wächst Ahne nämlich nicht nur in Ost-Berlin, sondern auch auf einem fremden Kontinent auf, der nach ihm benannt ist und den er gemeinsam mit seinen Mitschülern entdeckt. Dieser Teil hat mich beim Lesen etwas Mühe gekostet und war mir nicht so zugänglich. Als sein Vater die Familie verlässt, wird er zum Oberhaupt der Familie. Auch in der Realität lauern viele Gefahren, die er sich zunehmend stellen muss und so entschwindet er zunehmend seiner Fantasie-Welt, um durch die heillose Überforderung der Pubertät, Lehre und Armeezeit zu navigieren und sowas wie Zuflucht in der Punkmusik zu finden. Und dies wird auch der Moment sein, wo ich als Leserin zunehmend im Buch ankomme und als Nachwendekind mehr und mehr über die Lebensrealität eines Landes erfahre, in dem ich zwar geboren, aber nicht aufgewachsen bin. Bücher über die DDR-Zeit und über uns Nachwendekinder haben wir auf dem Blog schon häufiger vorgestellt. Vielleicht ist es das Interesse an einem Land, in dem wir geboren, aber nicht aufgewachsen sind, dass uns so für das Thema begeistert. Mit „Wie ich einmal lebte“ habe ich eine neue Perspektive dazugewonnen.

„Nicht nur Heldinnen“ von Jasmin Lörchner (Aline)

erschienen im Herder Verlag im März 2023

Das Buch „Nicht nur Heldinnen“ von Jasmin Lörchner beleuchtet in Kurzgeschichten Frauen, die zu Heldinnen geworden sind. Dabei geht die Autorin nicht nur auf bekannte Frauenfiguren ein, sondern auch auf eher unbekannte Charaktere. Man erfährt zum Beispiel von der mutigen Piratin Zheng Yisao, die Anfang des 19. Jahrhunderts über eine Piratenflotte mit 400 Schiffen herrschte. Oder von Margarete Steiff, die trotz gesellschaftlicher Einschränkungen das bis heute bekannte Unternehmen Steiff gründete.

Besonders interessant fand ich, dass die Autorin hiermit einen Gegensatz zu der allgemeinen Geschichtsschreibung schafft, die sich oft auf männliche Persönlichkeiten konzentriert. Es wird aufgezeigt, dass Frauen genauso große Helden waren und sind – immer noch eine wichtige Botschaft.

Um noch tiefer in solche Heldinnengeschichten einzutauchen, empfehle ich den Podcast der Autorin „HerStory“ zur Ergänzung. Hier findet man eine Sammlung von Folgen über außergewöhnliche Frauen aus Kultur, Naturwissenschaft oder anderen Bereichen, die ihr Leben auf ihre Art und Weise meistern.

Insgesamt ist „Nicht nur Heldinnen“ ein Buch, in dem es um mehr geht als nur Unterhaltung – es geht darum, eine Schwäche der Geschichtsschreibung auszubügeln und die Einzigartigkeit von Frauen auf eine besondere Art und Weise zu würdigen.

Bücher über Toxische Männlichkeit

Toxische Männlichlichkeit, eine Begrifflichkeit, die einem immer häufiger in gesellschaftlichen Diskursen begegnet. So widmen sich auch einige aktuelle Bücher der Frage: Was bedeutet überhaupt „Männlichkeit“ heutzutage? Luise nähert sich dem Thema mit zwei aktuellen Büchern an: „Noch wach“ von Benjamin von Stuckrad-Barre (April 2023, Kiepenheuer & Witsch) und „Toxic Man“ von Frédéric Schwilden (Februar 2023, Piper Verlag). Zum Blogbeitrag mit einer ausführlichen Rezension zu beiden Romanen geht es hier entlang.

„Das Café ohne Namen“ von Robert Seethaler (Aline)

erschienen bei Ullstein im April 2023

Mit einem Robert Seethaler-Roman weiß man, was man bekommt. Eine schöne Geschichte ohne viel Drama aber dennoch mitten aus dem Leben. Wir schreiben das Jahr 1966 und Wien erhebt sich 20 Jahre nach Kriegsende aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs. Die Stadt ist im Aufbruch und auch Robert Simon, ein ehemaliger Marktarbeiter lässt sich mitreißen und pachtet eine Gastwirtschaft, er eröffnet ein Café. Das Angebot ist begrenzt und eher einfach: Wein, Bier und Fettstullen. Dennoch scheint es genau das zu sein, was in der Nachbarschaft gut ankommt. Schnell wird das Café ohne Namen zum Treffpunkt der ganzen Nachbarschaft. Und während die Jahrzehnte an Robert Simon und dem Café vorbeiziehen, sich die Stadt verändert, lernen wir die Gäste des Cafés etwas besser kennen und scheinen als Leser:innen dabei selbst jeden Tag an einem Tisch in der Ecke zu sitzen. So stelle ich mir in jedem Fall Robert Seethaler vor, wie er in den Wiener Caféhäusern saß und die fiebrige Stimmung und auch die ruhigen Momente aufgesaugte und in diesen Roman gegossen hat. „Das Café ohne Namen“ ermöglicht dabei eine Flucht vor all den Diskursen, Kriegen und schlechten Nachrichten, die tagtäglich auf uns hereinprasseln. Zwar kommen in Seethalers Roman auch die Meckerer, die unglücklich Verliebten und die Alkoholiker vor, aber auch sie tragen all ihre kleinen und großen Träume in ihren Herzen, die erst zu Oberfläche kommen, wenn jemand wie Robert Seethaler diese in klaren und schnörkellosen Sätzen hervorhebt, für die er bekannt ist. Und das ist es, was ich meinte: als Leser:in weiß man, was man bekommt. Das einfache und dabei dennoch große Leben. Für mich war es der zweite Roman des Autors, zuvor hatte ich schon „Das Feld“ gelesen. Die Stimmung, die aus diesem Roman in mir zurückblieb, ließ mich sofort den Wunsch äußern, auch sein neustes Buch lesen zu wollen und auch diesmal war ich nicht enttäuscht. 

„22 Bahnen“ von Caroline Wahl (Aline)

erschienen bei DuMont im April 2023

Der Debütroman von Caroline Wahl scheint ein kleines Beben in der #bookstagramdeutschland Welt verursacht zu haben. Für alle die noch nichts von „22 Bahnen“ gehört haben, hier eine kurze Inhaltsbeschreibung: Tilda studiert Mathematik, arbeitet nebenbei an einer Supermarktkasse und wohnt noch zu Hause. Dort kümmert sich Tilda um ihre kleine Schwester Ida, denn ihre alkoholkranke Mutter ist dazu nicht in der Lage. Um von ihrem Alltag abzuschalten, schwimmt Tilda jeden Tag 22 Bahnen im Freibad, wo sie eines Tages Viktor wieder begegnet, mit dem sie eine schicksalhafte Vergangenheit verbindet. In diesem Hochsommer wird Tilda sich entscheiden müssen, ob sie ihrem Herzen oder ihrem Pflichtbedürfnis folgen wird.

In dem Roman von Caroline Wahl scheint die Tragik der Alkoholkrankheit der Mutter vorzuherrschen. Die Autorin schafft es in all dieser Tragik dennoch Hoffnung in ihre Sätze zu legen. Sodass am Ende nicht diese frustrierende Situation, sondern die Liebesgeschichte, die sich zwischen Tilda und Viktor entwickelt, überlagert. Dennoch hätte ich mir gewünscht, weniger einen Liebesroman in der Hand zu halten, sondern die Alkoholkrankheit der Mutter als Motiv stärker auszubauen. Doch es ist ein Debütroman und Caroline Wahl entwickelt ihre Stimme, eine Stimme, von der wir mit Sicherheit noch lesen werden.

Neben den Neuerscheinungen aus diesem Jahr haben wir auch beide endlich ein beliebtes Buch aus dem letzten Jahr gelesen, von der von uns geschätzten Autorin Mariana Leky:

„Kummer aller Art“ von Mariana Leky (Luise & Aline)

erschienen bei Dumont im Juli 2022

Angetan von „Was man von hieraus sehen kann“ wurde es endlich Zeit für uns, Neues von Mariana Leky auszuprobieren, diesmal ihr Buch: „Kummer aller Art“, von Aline gelesen und von Luise als Hörbuch gehört. Uns haben die literarischen Kolumnen, zuvor in „Psychologie Heute“ erschienen, unglaublich gut gefallen.

Im Inneren der Figuren sind Ängste, Sorgen – der Kummer ist mal kleiner, mal größer: von Liebeskummer, Flugangst, Trauer bis hinzu Zwangshandlungen. Einige wohnen bei der Ich-Erzählerin im Wohnhaus, wie der Nachbar Herr Pohl mit seinem Zwergpinschermischling Lori. Er ist eher in sich gekehrt, aber einer der hilfsbereitesten Menschen der Welt. Oder Frau Wiese, die Schlafprobleme und Angst vor Konflikten hat. Es sind auch Freunde und Familie der Ich-Erzählerin, wie Onkel Ulrich, ein ehemaliger Psychoanalytiker, der gerne Rilke zitiert und sich mit der Vergänglichkeit auseinandersetzt, oder die Patentochter Lisa mit ihrem ersten Liebeskummer. Die Figuren tauchen immer wieder in neuen Konstellationen auf. Sie sind in unterschiedlichen Lebenslagen, aber sie bilden eine Schicksalsgemeinschaft: „Der Kummer vereint sie etwa, wenn auf Spaziergängen Probleme zwar nicht gelöst werden, aber zumindest mal an die Luft oder ans Licht kommen“ so die pointierte Formulierung im Klappentext.

Wieder klug, humorvoll und mit treffenden Bildern und Anekdoten porträtiert Mariana Leky Menschen, die durch deren Imperfektion sympathisch und zugänglich sind. Aber es fehlt ihnen scheinbar an Mut zur Erkenntnis, dass sie mit ihren Macken nicht alleine sind – eine Einsicht, zu der man auch selbst mit der Lektüre kommen kann. „Man kann einen Alltag nicht auf den Kopf stellen, ohne dass er zerfällt (…). Er ist dann ein Durcheinander von Bestandteilen, in deren Mitte man steht wie das Strichmännchen von IKEA“. (S.120)

Eine passende Pressestimme von NDR Kultur: „Texte als Trostpflaster“: Denn diese Texte handeln zwar von Kummer aller Art, aber sind dabei so wohltuend, mit nahezu therapeutischer Wirkung, und sehr unterhaltsam. Lest selbst!

Über den Tellerrand – Historische Romane

Das Genre „Historische Romane“ lesen wir zwar beide ab und zu gerne, aber dennoch viel zu selten. Entsprechend wollten wir unser Schwerpunktthema „Über den Tellerrand“ als Anlass nehmen. Wir haben mit dem Zeitreisen aber eher zart begonnen – unsere Bücher spielen im 19./20. Jahrhundert:

Luise hat mit „Die Reporterin“ von Teresa Simon das Thema Journalismus gewählt. Gerade auch im Wandel der Zeit, fasziniert sie dieses Thema immer wieder, nicht zuletzt auch, da sie selber in der Medienbranche arbeite. Besonders reizt sie hierbei das Zusammenspiel von Emanzipationsbewegung und Journalismus.

Unsere Romane aus der Rubrik „Über den Tellerrand“ zum Thema Historische Romane

Aline ist der Autorin von „Der verlorene Sohn“ Olga Grjasnowa das erste Mal in einer Folge des Zeit-Podcasts „Alles gesagt“ begegnet. Seit dem liegt das Buch, das vom Zwiespalt des Aufwachsens mit zwei Identitäten und Kulturen im Hintergrund des kaukasischen Kriegs handelt, auf ihrem Lesestapel.

Beide Romane haben uns einmal mehr auf den Geschmack des Genres, Historische Romane, gebracht. Eine ausführlichere Besprechung findet ihr hier.

Ein Ausblick auf den Sommer

Die Sommermonate versprechen wieder viel Zeit, draußen im Grünen zu verbringen. Wer trotzdem nicht aufs Lesen verzichten möchte, packt einfach das Lieblingsbuch ein und nimmt es mit in den Park. Oder man geht zu einer Lesung in den Park. Davon wird es im August in Hamburg gleich mehrere geben und wir freuen uns schon sehr, die Veranstaltungsreihe „Draußen im Grünen“ als Kooperationspartner begleiten zu dürfen. Zwei vielversprechende Titel und Autorinnen stellen wir im Juni schon vor. Von Mitte Juli bis Anfang August wird es hier etwas ruhiger werden, schließlich brauchen wir auch mal Urlaub ;-). Danach starten wir direkt mit der Lesungsreihe als Knaller, seid gespannt!

In diesem Beitrag werden sowohl Rezensionsexemplare, als auch selbstgekaufte Bücher besprochen. Wir bedanken uns bei den Verlagen für die jeweilig zugesandten Besprechungsexemplare.

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