Ein Gastbeitrag
Ich bin Annika, habe ewig studiert und daraus resultierend darf ich mich Soziologin und Philologin der spanischen Sprache nennen. Klingt „eigentlich“ ziemlich gut. „Ach, brotlose Kunst?!“ Und „eigentlich“ wollte ich tatsächlich Kunst studieren, aber die mit dem Brot: Design, irgendetwas handwerklich Kreatives. Macht mich nämlich glücklich sowas.
Stattdessen meisterte ich eine sehr harte Lebensschule (wofür es natürlich kein Diplom oder so gibt) und neben dieser, der echten Universität und dem Taler zum Leben verdienen, blieb da nicht viel Raum für bunte Zauber- und (Er-)Leuchterei.
Nach einem eher unfreiwilligen Roadtrip von Spanien zurück, landete ich im letzten Jahr spontan in der Schweiz. Vor Spanien packte ich mein Leben in Deutschland in Kisten und davor war ich acht Monate lang in Mexiko, um endlich volle Kanne kreativ zu sein. Also künstelte ich, backte und schrieb und verteilte alles mutig unter die hiesige neugierige Menschheit. Und genau dort mache ich nun weiter. Ziel: nicht egoistisch all die tollen Erlebnisgeschenke für mich behalten und/oder anderen Mut machen.
In folgenden Zeilen geht es vor allem um Ersteres. Natürlich immer durch die kritische Brille einer „Aus-Versehen Soziologin“.
Dezember 2019
Auf dem Hauptplatz des Zentrums steht vor dem kolonialen Hotelgebäude ein großes Zelt, welches die Eisbahn umschließt. Sie wirkt ein wenig deplatziert und erinnert mich an New York. Überall Lichter. Nicht nur ein paar. Viele. Überall. Oft in Farben, blinkend, bunt. Kitschig?
Ich liebe diese Zeit der bunten Zauberei.
Einen Weihnachtsmarkt gibt es nicht. Zumindest nicht in Durango. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, dass die gesamte Fußgängerzone sich in einen Weihnachts-Großmarkt verwandelt?
Auch hier Lampen. Viele, helle, blinkende.
In den Kirchen besinnliche Konzerte. Und irgendwie lassen diese Tacos nicht locker! Sie sind einfach überall. Manchmal kostenlos – Santa Claus sei Dank. Alternativ Maispampe in verschiedenen Geschmacksrichtungen. So wie sonst auch.
Also beschließe ich, etwas vollkommen Abgefahrenes zu tun: Weihnachtskekse backen!
Mein Domizil ist ein sehr schönes Haus in einer Privada: dies können kleine von hohen Metallzäunen gesicherte Straßen sein oder – wie bei uns – ein fast kleiner bescheidener und von Wohnhäusern umringter Innenhof. Hier wohnt nur eine (nicht kleine) Familie, auf verschiedene aneinander gebaute und doch unterschiedlich aussehende Behausungen verteilt. So wirkt es fast wie ein einziges ringförmiges und den gepflasterten und hübsch begrünten Innenhof umarmendes Gebäude, mit von Eingangstür zu Eingangstür wandelndem Gesicht. Besonders! Hinter der klemmenden Holztür haben sich eine Studentin und ich bei einer jungen erfolgreichen Stylistin im geerbten Haus ihrer Eltern eingenistet. Das Haus ist etwas kahl, eben minimalistisch und ganz im Stil unserer Apple-besitzenden Vermieterin. Passt einfach.
In der ersten Etage hängt ein überdimensionaler Adventskalender.
2×1,60m Maschendraht an welchem in bunte Stofffetzen eingewickelte Klopapierrollen hängen. Verziert mit genauso bunten Plüschbällchen. Natürlich von mir. Für die Studentin und die Stylistin. Während ich über die lang über meine Kindheit hinaus gepflegte Tradition des Adventskalenders vor Freude ausrasten würde und kaum den nächsten Tag bzw. die nächste Klorolle abwarten könnte, hingen hier oftmals tagelang schon längst vergangene Nummern am Gitter. Begeisterung pur. Zumindest ich selbst freue mich über das große Drahtstück, wenn ich die Treppen heraufgehe.
Es leuchtet so schön bunt, belebt die ganze gekachelte Etage mit den zwei hölzernen Zimmertüren und dem bodenlangen Milchglasfenster zum kleinen durch alle Stockwerke nach oben verlaufenden Mini-Servicehof von ca. 2 qm Fläche. Ansonsten: nichts. Kein Bild, kahle Wände, weiße Farbe im ganzen Haus. Radikal.
Adventskalender sind hier nicht wirklich bekannt. Durango ist recht nördlich gelegen, sagen die Mexikaner. Folglich ziemlich sichtbar: die US-amerikanische Kultur. Die Pizza Take-Aways, die quasi was für wohlhabendere Persönchen sind (preislich definitiv!), die stets präsenten Acryl-Fingernägel und vollgestopfte Mega-Malls oder eben …. Weihnachten. Alles ist etwas laut, etwas viel, etwas bunt und weit weg vom kuscheligen weißen Winter mit Stiller Nacht und Kamingeknister. Weiß ist hier auch nicht viel und wirklich kalt ist es nur wenige Wochen und dann vor allem IN den Häusern, da sie eben keine Heizungen, geschweige denn isolierte Wände haben. Nicht einmal die wohlhabende Medizinerfamilie des Onkels nebenan. Also treffe ich diesen manchmal vor der Haustüre an, wo wir uns dann gemeinsam in den Innenhof blickend in der Sonne aufwärmen, ehe jeder in sein ausgekühltes Haus zurückgeht.
Verdrehte Welt.
Plötzlich ist er da, der Heilige Abend.
Meine mit – vom Adventskalender übriggebliebenen – Klorollen ausgestochenen Zitronen-Weihnachtskekse mit weniger Zucker und viel frisch gepresstem Saft aus den kleinen grünen Zitrönchen (sehen eigentlich aus wie Limetten) liegen bereit und ich bin gespannt. Tatsächlich war ich wohl schon sehr lange nicht mehr so sehr aufgeregt an Weihnachten. Die Wangen glühen mir fast wie früher, als es das Christkind wirklich noch gab.
Zur Messe geht niemand aus der Familie. Oder doch? Oft heißt es „wir gehen nicht“ und plötzlich sind alle kurz weg und berichten, dass sie doch dort waren. Oder umgekehrt. Planen zwecklos. Und zum ersten Mal merke ich als normalerweise doch recht planloses Wesen, wie wichtig mir das mit der „typisch deutschen“ Struktur ist.
Ich bin eingeladen, den Abend mit Ihnen zu verbringen.
Ab ca. 17 Uhr totales Gewusel bei uns zu Hause und im Innenhof und überall im ringförmigen Haus: Türen gehen auf und zu, Schüsseln, Geschirr und Päckchen werden hin und hergetragen, um dann wieder alle kurz in den Gebäuden verschwinden zu lassen. Angeblich geht’s „Ahorita“ (jetzt gleich) los und ich mache mir bereits Sorgen etwas zu verpassen. Dabei ist es nicht mein erstes Festchen hier und ich sollte längst wissen, dass sich das hiesige Zeitgefühl ziemlich signifikant von dem von mir gewohnten unterscheidet. Und das mein abendlicher Plan keineswegs aufgrund von Programmpunkte-Kollision gefährdet ist.
Früher da bastelte ich mal Keks-Schneemänner mit einer Freundin, die wir dann an arbeitende Menschen in Heidelberg verteilten. Es war so wunderschön, wie wir mit den Celophantütchen in Körben durch die frisch verschneite leise Stadt stapften und Taxi-, Bus-, Bahnfahrer oder die Polizisten besuchten, um Ihnen die Männchen zu reichen.
Da in Durango alles „etwas“ anders ist als in Heidelberg, wollte ich ganz unbedingt mittellosen Menschen helfen. Durch Kontakte zu karitativen Einrichtungen erhoffte ich in einer Art Suppenküche zu unterstützen. Vielleicht lag es an meiner doch zu spontanen Planung, denn dies war nicht realisierbar. Zu weit weg? Oder derart nicht wirklich existent? Oder schon genug Personal? Jedenfalls lud mich stattdessen eine Frau ein, Essen an Menschen auszugeben, die Verwandte in der Klinik nebenan haben und in den kostenlosen Zimmern nächtigen dürfen. Ohne ausreichende finanzielle Mittel, um täglich im Bus hin- und herzufahren oder sich gar ein Zimmer zu nehmen. Ich werde also gegen halb 7 aus dem noch immer unverändert vor sich hinwuselnden Familiengeschehen in Form eines großen schwarzen Autos herausgelöst.
Unser Ziel ist ein relativ kleiner, weißer Raum mit Durchreiche zur angrenzenden Küche.
Viele Menschen sind nicht da, weniger als zehn (natürlich hatte ich auf einen vollen, lauten Raum und magisches Durcheinander gehofft). An verschiedenen Tischen sitzend, spiegeln die Gesichter Müdigkeit und unzählige Geschichten wieder. Wortlos, wartend.
Sie essen ihre Mahlzeit schweigend vom Kantinen-Tablett, die verantwortliche Dame muss recht bald gehen. So sitze ich in der Kahlheit des Raumes, gestiftet vom Staat Durango wie die Wandbanner verraten. Neonröhren und Stille. Weihnachten?
Irgendwie schaffe ich sie alle für einen nur kurzen Moment am selben Tisch zu versammeln. Ist es die Musik, mein Lächeln oder die aufmunternden Worte die laut und fremd durch die Beklemmung schneiden und hier und da die Gesichter aufflackern lassen? Es ist Weihnachten! Sie kommen und nehmen sich Kekse, die zwei Jungs haben kurz ein Lächeln im Gesicht. Verstohlenheit. In diesem kleinen Raum prallen soeben im weißlichen Licht Universen aufeinander.
Essen verbindet. Eine ältere Dame ist dankbar und beginnt freudig zu erzählen.
Wir hören von meinem Handy Lieder, ein oder zwei…ich weiß es nicht mehr. Es ist ein schöner, kurzer Moment, ehe die ruhelosen Gesichter wieder durch die Tür verschwinden.
Frohe Weihnachten.
Die ältere Dame und ihr Sohn begleiten mich nach Hause. Schließlich ist es allein „viel zu gefährlich“ erklären sie mir, während wir durch die stillen Straßen laufen.
Um ca. 21 Uhr komme ich wieder in der Privada an. Immer noch wuselndes Durcheinander. Angefangen hat noch gar nichts. Auch irgendwie normal hier. In Deutschland bin ich notorisch unpünktlich und in Mexiko die durchgeplante Deutsche, wiederholt fragend und wiederholt mit „Ahorita“ beantwortet. Fantastisch.
Also beschließe ich mich mit meinem knallroten Fahrrad auf den Weg zu machen, um die restlichen Kekse auch noch zu verteilen.
Hier gibt es ohnehin genug Leckereien. Unter anderem mehrere äußerst sahnige, gar nicht kalorienarme bombige und hier sehr typische Torten in Plastikbehältern, aus denen ich später eine kronleuchterartige Lampe bastle. Hülle und Fülle wird auf sich durchbiegenden Tischen serviert.
„Du kannst nicht allein ins Zentrum fahren – es ist Nacht!! Viel zu gefährlich!“ höre ich auch hier.
Trotzdem breche ich äußerst mutig Weihnachtslieder trällernd und Machete schwingend in die „gefahrenvolle“ Innenstadt auf. Und finde es wunderbar. Arbeitende Menschen finde ich keine. Alles leer. Kein Taxifahrer, kein Bus, der rasant um die Kurven prescht. Die sonst so stark befahrenen Straßen der chaotischen Innenstadt dösen vor sich hin. Nur ein paar Seelen laufen allein über Pflastersteine oder sitzen wartend auf Treppenstufen am Wegesrand. Fast alles Männer. Über ihren Köpfen die einsam flackernde Weihnachtsdeko.
Zunächst Skepsis: „Wieso gibst Du mir etwas umsonst?“ „Weil Du allein bist und ich Dir eine Freude am Weihnachtsabend machen will.“ Zögernde Hände nehmen die in Servietten gewickelten Kekse an. Ich erzähl noch ein wenig zu den Inhaltsstoffen und verabschiede mich. War das nicht ein zartes Lächeln?
Gibt es was Schöneres als zu tun, womit niemand rechnet? Denn dann erleben wir genau das, was wir so vermissen: Staunen. Zaghaft, vorsichtig, freudig.
Eine Frau läuft mit ihrem Partner und einem Einkaufswagen voller Plastikflaschen umher. Plastik kann man an die Recyclingstation verkaufen, was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß.
Sie sind laut und ein wenig rüpelhaft, weil sie gern mehr als nur ein einziges kleines geschnürtes Servietten-Päckchen von mir wollen. Die zwei mit ihren ratternden Metallwägen. Also bekommen sie die Reste und ich wünsche ein frohes Fest, ehe ich gegen 22:30 Uhr wieder im hell erleuchteten Haus ankomme.
Um umringt von 25 Menschen das lauteste, bunteste und verrückteste Weihnachtsfest zu erleben. Chaotisch und gleichzeitig vielleicht auch entspannt. Denn sobald alles aufgetischt ist und wir alle um die irgendwie in unserem Eingangsbereich arrangierte Tafel sitzen, läuft alles wie geschmiert. Quasi einstudiert. Ritenartig. The same procedure as every year James….(Miss Sophie kennt hier übrigens niemand).
Die Tische hören auch mit zunehmender Wölbung der Bäuche nicht auf sich zu biegen und nach Salaten mit Tacos zu Tacos auf Tacos, schälen sich die heißersehnten Sahnetorten aus ihren Plastik-Etageren um mitten auf der lauten Tafel zu thronen. Es ist ein wenig verrückt aber auch vornehm, denn die selten gesehene und äußerst elegante „Abuela“ von gegenüber hat neben ihrem ebenfalls Mediziner-Gatten im „eigentlich-Ruhestand“ Platz genommen.
Schon seit dem Nachmittag bewundere ich die stark ansteigende Päckchen und Paketeflut unter und um unseren wandernden Gummibaum herum (die Wanderung lässt sich mit einer Art kreativen Perfektion begründen). Um Mitternacht ist zunächst Wünsche- und Dankeszeit. Wir stehen alle dort an unserem Platz an den krummen Tischen mit oder ohne Champagner und irgendwie leuchten alle Gesichter etwas. Und jeder der mag, darf etwas sagen. Mein Herz rast und als Allerletzte hebe ich dann auch noch schüchtern die Hand (Ich schüchtern? Ja, geht auch). Alle schauen mich sanftmütig und lächelnd an, als ich mich mit Puls von 370 für all das bedanke und mitteile, dass ich noch nie so ein friedliches und fröhlich glückliches Weihnachtsfest erlebt hatte.
Auf die Plätze fertig los!
So fühlt es sich an als endlich der Geschenkeberg erklommen wird. Stolz stellt sich eine Schar von mindestens zehn kleinen Persönchen in Baumnähe auf und bringt ein Geschenk nach dem anderen unter großem Applaus aller mit freudig stolzem Gesichtchen zum auf dem Anhänger ausgewiesenen Empfänger. Das nenne ich mal Feiern! Und weil ich nun einmal ein Gast in einem Land der absoluten Gastfreundschaft bin, sahne ich richtig ab. Ein zu großes Top von meiner Stylisten-Vermieterin, eine warme Kuscheldecke von der Arztfamilie nebenan – sie wissen, dass ich nachts sehr friere. Die Decke hat sogar ein extra Fach für die Füße, welches ich jetzt gerade wirklich vermisse! Sie ist nun in Mexiko-Stadt bei dem vermutlich niedlichsten kleinen Mädchen (und Spongebob-Fan) aller Zeiten. Sie schläft nun in dieser. Und ich hatte nicht so viel Rückreisegepäck. Win Win.
Abuela und Abuelo schenken mir ein paar funkelnde Modeschmuck-Armbänder, die ich noch nie getragen habe. Doch immer, wenn ich sie an ihrem türkisfarbenen Haken im schweizerischen Badezimmer ansehe, spiegeln sie jenen Herzklopf-Abend wieder, die Freude aller, wenn bei der Bescherung erneut mein Name fällt und der gutmütig sanfte Blick der geheimnisvollen Abuela. So als hätte sie mir einen Schatz geschenkt. Ja, tatsächlich hat sie das wohl.
Frohe Weihnachten!
Und Feliz Navidad von uns, liebe Annika! Danke für diese unglaublich herzerwärmende Weihnachtsgeschichte und gedankliche Reise ins ferne, warme Mexiko!