Was ist Männlichkeit? Buchbesprechungen zu Schwildens „Toxic Man“ und von Stuckrad-Barres „Noch wach?“

Toxische Männlichlichkeit, eine Begrifflichkeit, die einem immer häufiger in gesellschaftlichen Diskursen begegnet. So widmen sich auch einige aktuelle Bücher der Frage: Was bedeutet überhaupt „Männlichkeit“ heutzutage? „Der Starke“, „Beschützer“, „Jäger“ oder „keine Gefühle zeigen“ wurden früher gerne als klassische Elemente für „typisch männlich“ betrachtet, diese aber zu einem toxischen Verhalten führen können – vom fehlenden Zugang zu eigenen Gefühlen und „Macker“-Verhalten bis hin zu gefährlichen Formen wie Aggressionen und sexuelle Belästigung und Vergewaltigung. Entscheidend können dabei unter anderem starr vermittelte Rollenbilder wie die oben genannten bei der Entwicklung eines eigenen Männlichkeitsbildes sein.

Hierzu stelle ich diesmal zwei Romane vor, die genau auf diese Thematik eingehen – wie Männlichkeit heute definiert wird und inwiefern dieses Bild gelöst von toxischen Verhaltensweisen neu entwickelt werden sollte.

Bücher über toxische Männlichkeit: „Toxic Man“ & „Noch wach?“

„Toxic Man“ von Frédéric Schwilden

Erschienen bei Piper, Februar 2023, Rezensionsexemplar

Der Ich-Erzähler steht vor seinem künstlerischen Durchbruch. So soll er als Fotograf eine ihm als Jugendliche mit Depressionen beschriebene Künstlerin fotografieren, die, wie sich herausstellt, niemand Geringere als Billie Eilish ist. Auch den Gesundheitsminister darf er fotografisch portraitieren und wird anschließend sogar zu seiner Party eingeladen. In Köln wird er seine bisher größte Fotoausstellung eröffnen dürfen. Doch welches soll das Titelbild werden? Eine wichtige Entscheidung, die sich aktuell nicht leicht treffen lässt, da sein Vater gerade verstorben ist. Der Tod wühlt ihn auf. Zu seinem Vater hatte er ein sehr ambivalentes Verhalten. Dessen Härte und Gefühlskälte hat seine Kindheit geprägt und gleichzeitig hat sich der Protagonist immer wieder am Vater abgearbeitet. Darf man also erleichtert sein, wenn ein toxisches Elternteil verstirbt? Als seine Frau schwanger wird, hinterfragt er zugleich, ob er aufgrund der Erfahrungen in seiner Kindheit überhaupt in der Lage ist, ein guter Vater zu werden. Er stürzt sich in Drogenexzesse und in eine tiefe, existenzielle Krise.

Die Figur ist ambivalent. Denn diese ist zum einen modern, selbstbewusst und offensiv. Das Titelbild seiner Fotoausstellung, für das er sich letztendlich entscheidet, ist intim und aufsehenerregend. Seine Ausstellung „Toxic Man“ stellt klassische Rollenbilder von Männlichkeit in Frage. Durch sein exzentrisches Aussehen wird der Ich-Erzähler auch gerne mal – typisch Schubladendenken – für homosexuell gehalten. So wird der Protagonist selbst Opfer sexueller Übergriffigkeit, indem er von einem anderen Mann genötigt wird.

Zum anderen werden Verhaltensweisen sichtbar, die der Protagonist von seinem Vater übernommen hat. So scheint er überfordert mit der Nähe zu seinem Sohn, dabei liebt er ihn. Er wird verbal verletzend gegenüber seiner Frau und verletzt sich selber sogar körperlich. Doch dafür hasst er sich, weil er genau dieses toxische Verhalten auch bei seinem Vater letztendlich gehasst hat.

In einer Lesung mit Frédéric Schwilden bei WDR 1Live Stories erfährt man, dass die Figur des Buches eng mit seiner eigenen Biographie verzahnt zu sein scheint, sodass man dazu geneigt ist, darüber nachzudenken, was wirklich passiert sein könnte: eine klassische Herausforderung autobiographischer Romane. Mich hat es manchmal auch etwas abgelenkt – zum Beispiel in Situationen, bei denen man sich fragt, ob sich der Autor in Gefilde begibt, die womöglich schwerer nachzuempfinden sein könnten, als „weißer cis-Mann“, wie in Bezug auf den sexuellen Übergriff. Dem gegenüberstellen kann man, dass der Autor aufzeigt, dass auch Männer Opfer toxischer Männlichkeit werden können, gerade wenn sie dem „typischen Bild“ nicht entsprechen.

Genau diese Ambivalenz des Protagonisten führt letztlich dazu, dass man seine eigene Definition von Männlichkeit hinterfragt. Toxic Man zeigt uns auf, wie toxisch und schädlich bestimmte veraltete Vorstellungen sind, dahingehend was es bedeutet ein Mann zu sein. Dabei wirft Schwilden für mich wichtige Fragen auf wie: „Was passiert mit Männern, die keinen Platz in der Gesellschaft finden? Was tun wir mit Männern, die gefährlich sind?“

Das Buch hat eine dichte, aber auch sehr direkte, alltägliche Sprache, was ich wiederum stimmig in Bezug auf die Atmosphäre der Geschichte finde. Für mich lässt sich der Roman der Popliteratur zuordnen. Er ist provokant, konzentriert sich auf Momentaufnahmen und nimmt Bezug zu popkulturellen Phänomenen. Dies ist vermutlich auch der Grund, weshalb mich der Schreibstil von Schwilden an das Buch „Faserland“ von Christian Kracht, aber vor allem auch an Benjamin von Stuckrad-Barres Stil erinnern lässt. Dessen neuen Roman „Noch wach?“ habe ich im Anschluss gelesen und mehrere Parallelen entdeckt:

„Noch wach?“ von Benjamin von Stuckrad-Barre

Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, im April 2023

Ein Buch, das bereits in den ersten Tag seiner Veröffentlichung enorm kontrovers diskutiert wurde, ist „Noch wach?“ von Benjamin von Stuckrad-Barre. Denn eines wirkt offensichtlich: der Autor nimmt Bezug zu einem sehr brisanten Fall, bei deren Aufdeckung er zudem involviert gewesen ist: den Skandal um den ehemaligen Chef-Reporter der BILD Julian Reichelt bzw. über die patriarchalen Machtstrukturen des Medienkonzerns Axel Springer, im Speziellen die BILD. Doch wieviel Bezug besteht wirklich zwischen dem Roman und den realen Begebenheiten?

Der Prolog handelt von einer Frau, die von ihrem neuen Job bei einem großen Fernsehsender erzählt, von ihrem neuen Chef, ihrem neuen, berauschenden Arbeitsleben. Ihr privates und berufliches Leben lassen sich durch eine Liaison mit ihm jedoch nicht mehr trennen. Sie glaubt, sie sei die Einzige. Jedoch könnte es in der Redaktion mehrere Mitarbeiterinnen betreffen. Denn immer mehr Frauen berichten dem Ich-Erzähler von Situationen, in denen der Chefredakteur seine Machtposition missbraucht. Zugleich ist der Besitzer des Fernsehsenders sein bester Freund, der die Augen davor verschließt.

In Amerika ziehen andere konservative Zeiten auf, Donald Trump wird Präsident der Vereinigten Staaten. Im Garten des legendären Hotel „Chateau Marmont“ befindet sich der Erzähler für einen längeren Aufenthalt sowie eine Frau namens Rose, die in sich gekehrt vor allem gerne am Beckenrand ein Buch liest. Zwischen ihr und dem Erzähler herrscht eine unausgesprochene Übereinkunft, dass auch Schweigen in Ordnung geht. Bis sie ihm durch die Biographie von Monica Lewinsky eine geheime Botschaft hinterlässt. Rose gilt in der Künstler-Blase, in der sich auch der Erzählende als Autor bewegt, als jemand, „die irgendwie anstrengend geworden sei“. Der Protagonist fragt sich, warum und was die Botschaft, unter anderem, „(…) bald brennt dann ganz Hollywood“ bezwecken soll. Kurz darauf erschüttert der Weinstein-Skandal Hollywood. Die Schauspielerin Rose McGowan ist eine der ersten Frauen, die sexuelle Belästigung durch den bis dahin von ganz Hollywood gefeierten Filmproduzenten öffentlich macht. Nun ergibt für den Erzählenden Roses Geheimbotschaften einen Sinn.

Zurück in Berlin findet sich der Erzähler nicht mehr nur als Liegestuhlbeobachter, sondern als Akteur mitten in einem unübersichtlichen Geschehen wieder. Die betroffenen Mitarbeiterinnen des Fernsehsenders beginnen sich zusammenzuschließen und er soll sie unterstützen, wenn es um den Kampf gegen die Machtstrukturen der Redaktion geht. „Und was heißt das jetzt, willste auch nur einer von diesen Gratis-Hashtag-Dödeln sein, oder willst du wirklich helfen, etwas zu VERÄNDERN?“, so eine gute Bekannte, die beim Fernsehsender arbeitet, zum Protagonisten. Doch die Freundschft zum Senderbesitzer hilft ihm weniger, als er glaubt. Halten die Männer des Medienkonzerns immerhin zusammen. Von Hollywood aus verbreitet sich derweil die #MeToo-Bewegung um die ganze Welt und zeigt auf, wie gleichberechtigt Frauen und Männer in Wirklichkeit (nicht) sind, die Macht gebührt häufig noch den Männern…

„NOCH WACH?“

Das Buch ist in klassischer Stuckrad-Barre-Manier geschrieben, mitreißend und gleichzeitig auch gerne ausschweifend, bis hin zu verwirrend. Es ist ein Roman, für den man sich Zeit nehmen muss, um in die Gedankenwelt des Erzählenden einzutauchen. So verstehe ich erst nach einer gewissen Zeit, weshalb regelmäßig Wörter in Großbuchstaben geschrieben sein könnten, als dass sie für mich Bezug zum Titel nehmen, im Sinne von: BIST DU NOCH WACH?

Zeit für das Gelesen zu brauchen, ist bei Benjamin von Stuckrad-Barres Büchern nicht unüblich, so erging es mir auch schon bei „Panikherz„. Genauso, dass es sich um eine autobiographische, persönliche Erzählung handelt, weshalb das Buch aber auch so kontrovers diskutiert wird. Man kann es nicht unvoreingenommen lesen – so gab es eine Reportage von ARD Zapp zum Vergleich der Geschehnisse im Roman und dem BILD-Skandal. Hier bestreitet Stuckrad-Barre eine Gleichsetzung, was es sicher auch nicht ist. Parallelen sind jedoch unverkennbar. Wie bei Schwildens „Toxic Man“ fiel es mir auch hier schwer, die Situationen im Buch nicht stetig als real oder fiktiv zu hinterfragen. Gerade durch den autobiographischen Bezug, der in jedem Fall gegeben ist, wie man weiß, wenn man von Stuckrad-Barres Memoir Panikherz gelesen hat: Denn auch dort wohnt er einige Zeit im Hotel Chateau Marmont oder berichtet von seinen früheren Erfahrungen als Drogensüchtiger und von seiner Essstörung.

Interessant ist auch die Diskussion, inwiefern Benjamin von Stuckrad-Barre durch den Skandal vor allem Profit schlägt. So eröffnete Autorin Mareike Fallwickl die Diskussion, inwiefern Stuckrad-Barre mit seinem Bestseller an ihren fiktiven Autor Wenger in „Das Licht ist hier viel heller“ erinnere, der die Brisanz der #metoo-Debatte ausnutzt, um einen neuen Kassenschlager zu schreiben und dabei Briefe einer Betroffenen kopiert. Auch ich habe direkt an Fallwickls Roman und an die Parallelen gedacht, im Sinne von: „Kann Stuckrad-Barre die Seite der Opfer wirklich nachempfinden oder stößt er wie Wenger an seine Grenzen?“. Es ist meiner Meinung nach schwierig, bei Stuckrad-Barre von einer Kopie zu sprechen, zum einen, da er die Entwicklung des realen Skandals als einer der Aufdeckenden mitverfolgt hat, zum anderen, da er es in eine fiktive Handlung verpackt. Zumal er durch den Roman mit dem Konzern Axel Springer abrechnet, für den er jahrelang gearbeitet hat und auch eine Freundschaft zum Herausgeber Matthias Döpfner bekanntlich pflegte. Ich hätte mir gewünscht, dass in dem Roman die Frauen noch mehr als Heldinnen wahrgenommen werden, als weniger der Ich-Erzähler selbst, der einen sehr wesentlichen Anteil bei der Offensive gegen den Fernsehsender haben wird. Dieses Buch geht dennoch klar in die Offensive und geht gegen die patriarchalen Machtstrukturen solcher Konzerne an, bzw. deckt sie auf. Der Roman bietet für mich einen wesentlichen Denkanstoß zur Frage „Was ist Männlichkeit heutzutage?

Für weitere Hintergründe zum Machtsystem Axel-Springer und BILD: Der SWR-Podcast „Boys-Club“

Fazit

Die Autoren scheinen beides Männer, denen selbst etwas daran gelegen ist, die Strukturen von toxischer Männlichkeit aufzubrechen und auch zu bekämpfen. Sie legen den Finger in die Wunde. So könnte man zwar kritisieren, dass sie versuchen, sich jeweils in Gefilde zu bewegen, die womöglich weiße cis-Männer nur schwer nachempfinden können. Aber um Benjamin von Stuckrad-Barre zu zitieren: So erwidert er im Podcast von WDR 1Live, dass jeder und jede seine Stimme erheben sollte, um toxische Machtstrukturen aufzudecken. Diese Meinung teile ich – dass männliche Autoren weiterhin mehr Aufmerksamkeit erhalten, zeigt eher die Lücke des Systems, die immer noch aufklafft.

Bei beiden Büchern wird das klassische Männlichkeitsbild in Frage gestellt, indem genau die toxischen Elemente von Männlichkeit ins Zentrum der jeweiligen Geschichten gestellt werden und patriarchale Strukturen aufgedeckt werden. Daneben sind auch beide Bücher in der Gegenwartssprache geschrieben und die Protagonisten sind eng mit den Biographien der Autoren verknüpft. So haben beide Ich-Erzähler im Buch keinen Namen, sicher kein Zufall. Meiner Meinung nach zeigen beide Autoren somit, welch zentrale Rolle (noch immer) das Thema toxische Männlichkeit in der modernen Gesellschaft hat bzw. haben sollte. Entsprechend berichten sie sehr wohl von realen Erfahrungen, ungeachtet dessen, welche konkret wahr sind und welche nicht. Sie zeigen, dass toxische Männlichkeit ein brisantes, reales Thema ist und bleibt.

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