Der zerplatzte Traum vom American Dream: Eine Rezension zu „Der Kaninchenstall“ von Tess Gunty

„Im Kaninchenstall lebten mehr Nager in den Wänden als in allen Gullys von Vacca Vale zusammen. Man gewöhnt sich an sie, hat fast Mitleid mit ihnen“. (S.163)

Bereits dieses Zitat zeigt für mich auf, wie atmosphärisch der Roman „Der Kaninchenstall“ (Kiepenheuer & Witsch, Juli 2023, übersetzt von Sophie Zeitz) der jungen, talentierten Tess Gunty ist. Mit 29 Jahren ist sie die jüngste Preisträgerin des National Book Awards. Ihr Roman ist für mich verstörend, abgefahren und zugleich außergewöhnlich anders:

„Der Kaninchenstall“ von Tess Gunty

Inhalt

Blandine ist eine junge Erwachsene, die mit ihren weißblonden Haaren auffällt, nahezu geisterhaft scheint, aber auch eine besondere Anziehungskraft auswirkt. Sie entwickelt eine Obsession für Mystik, insbesondere für Hildegard von Bingen, die nach Selbsterkenntnis und Freiheit strebte wie Blandine selbst. Letztere fällt stetig durch das System – sie ist in einer Pflegefamilie aufgewachsen, bricht die Schule trotz Weiterempfehlung auf ein College ab, nachdem sie nach einer Affäre mit ihrem Lehrer unglücklich zurückbleibt, vielmehr in ihrer aussichtsreichen Zukunft zerstört wird. Stattdessen zieht sie in den „Kaninchenstall“, ein schäbiges Apartmentkomplex mit dünnen Wänden und Nachbarn, die ähnlich verloren sind wie Blandine: wie etwa die unsichere, alleinstehende Joan, die für ein Online-Portal arbeitet und unangemessene Kommentare unter Nachrufen löscht; wie den von Moses, unter dem eigens erstellten Nachruf von seiner Mutter und Kinderstar Elsie Blitz; oder eine junge Mutter mit einer Angststörung, vor allem in Bezug auf die Augen ihres Babys sowie Blandines WG-Mitbewohner, die wie sie jeweils aus Pflegefamilien stammen und Tieropfer bringen, für Blandine oder aus Langeweile. Und dann wäre da noch dieser für Vacca Vale Unbekannte im schwarzen Rollkragenpullover, trotz der sommerlichen Hitze, der durch die verlassenen Straßen spaziert. Was er im Schilde führt, verrät er nur einem resignierten Pfarrer im Beichtsuhl.

Kritik

Vacca Vale ist eine fiktive Stadt, aber im realen Indiana des Rust Belts, einst eine florierende Industrie-Gegend. Der Roman beschreibt feinsinnig ein Milieu der Amerikaner:innen, die es nicht leicht im Leben haben und ihren begrenzten Möglichkeiten erlegen sind, wogegen sie ankämpfen möchten – womöglich für die Freiheit, für den amerikanischen Traum. Die Hoffnungslosigkeit ist auf jeder Seite spürbar. Amerika als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten wird hier in seinen Schattenseiten beleuchtet – was wenn der American Dream nicht aufgeht?

„In Vacca Vale suchen die leeren Werkshallen den Himmel und die Vögel heim mit der Erinnerung an vermeintlich bessere Zeiten, eine Endlosschleife wie die Tagträume eines traurigen Trinkers, der früher Quarterback in der Highschool war“. (S.174)

Tess Gunty entwickelt komplexe Figuren, die skurril, zugespitzt und gleichzeitig authentisch sind (was widersprüchlich klingt, ich aber genauso meine). Es ist ein vielschichtiger Roman, der diverse wichtige Themen aufgreift wie die Vereinsamung in der globalisierten, digitalen Welt, aber auch #Metoo, Machtmissbrauch, Täter-Opfer-Umkehr bis hin zum Klimawandel. Noch dazu ist es ein mosaikartiger Roman aus verschiedenen einzelnen Geschichten und unterschiedlichen Textgattungen. Der Roman ist unter anderem gespickt mit Online-Kommentaren, Vernehmungsprotokollen und Zeichnungen. Man könnte meinen, die Autorin wolle zu viel. Man muss sich durchaus konzentrieren, um die Komplexität des Inhalts, aber auch die feinsinnig bildhafte und sehr dichte Sprache vollends zu erfassen. Und gleichzeitig, ist es für mich durchgehend stimmig. Es wird ersichtlich, dass moderne, feministische und ökologische Ansichten nicht bis in alle Gesellschaftsschichten durchdrungen sind – Blandine ist eine Kämpferin für genau diese Werte – eine moderne Hildegard von Bingen.

Die Wohnungen der Protagonisten sind allein durch dünne Wände getrennt, es werden Parallelen oder Verflechtungen zwischen den Bewohner:innen sichtbar. Vor allem vereint sie Einsamkeit, Sehnsucht nach der guten Vergangenheit und nach einem besseren Leben sowie die Hoffnungslosigkeit in einer ehemaligen Industriestadt, die wie ihre Bewohner:innen geisterhaft scheint.

Fazit

„Der Kaninchenstall“ eröffnete sich nach einer ersten Aufwärmphase für mich als eine intensive, schonungslos ehrliche, aber auch düstere Geschichte. Als Vielleserin passiert es mir häufiger, dass ich bei Büchern mit stereotypen Charakteren und vorhersehbaren Handlungsverläufen relativ schnell gelangweilt bin. Tess Guntys Roman ist alles andere als durchschauend bis zur letzten Seite. Und für mich alles andere als langweilig.

Weiterführende Linktipps:

ZEIT Online: Rezension David Hugendick, Juli 23
NDR: Rezension Annemarie Stoltenberg, Juli 23

Oder aber weitere tolle Rezensionen unter anderem von unseren Blog- und Bookstagramkolleg:innen readiculous.me, the_female_reader, manu.liest oder booksartnature

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