Fernwehgeflüster: Ein Leserückblick auf den Sommer 2023

Mittlerweile eine jährliche Routine bei uns – in den Sommermonaten Juli und August eine Blogpause einzuplanen bzw. als Zeit zu nutzen, in der wir auch mal mit halber Kraft bloggen. Unser Ziel ist es, Abstand von der digitalen Welt zu gewinnen, neue Kraft zu tanken und auch mal lesen zu können, ohne direkt an eine anstehende Rezension zu denken. Gesagt getan: Luise hat sich mit dem Reiseziel New York einen langersehnten Punkt auf ihr Bucket-List erfüllt. Aline hat in Island noch einmal Naturspektakel erleben können, die ihr bei all ihrer Reiseleidenschaft noch nicht begegnet sind.

Und schon gewusst? Island ist auch ein Paradies für Bücherfreunde, schließlich soll in jedem dritten Einwohner ein:e Autor:in stecken. Besonders in der Vorweihnachtszeit wird das Land ganz närrisch. Die Buchläden haben bis 23 Uhr offen und man verschenkt nicht nur, sondern kauft sich auch Bücher, die man gerne geschenkt haben möchte, nur für den Fall, dass man sie nicht geschenkt bekommt.

Mit dabei auf unseren Reisen natürlich jeweils genug Leselektüre! Die und vieles mehr also in unserem zusammengefassten Leserückblick der Monate Juli und August:

„Schneeflocken wie Feuer“ von Elfi Conrad (Aline)

Erschienen im Juni 2023, im Mikrotext Verlag; Rezensionsexemplar

In den 1960er-Jahren, im Oberharz, will sich die 17-jährige Dora gegen die sexuellen Tabus, patriarchalen Strukturen und das enge Korsett ihrer Jugend zur Wehr setzen und hat sich ihren Musiklehrer als Opfer herausgesucht. Der kann ihren Brigitte-Bardot-Verführungskünsten nichts entgegensetzten und lässt sich umgarnen, bis er eine Affäre mit seiner Schülerin beginnt. Das Jahr bis zum Schulabschluss ist Gegenstand der Erzählung der 80-jährigen Dora, die durch ein Klassentreffen animiert nun selbstkritisch zurück auf diese Zeit blickt: „Die Welt in meinem Kopf werde ich erst ein paar Jahre später geraderücken können.“ (S. 73), indem sie erst nach dem Lesen feministischer Texte begreift, dass das jüngere Selbst – die Verführerin – eine Rolle ist, die ihr durch Sozialisation auferlegt wurde. Wie weit sind wir wirklich gekommen und wie tief ist die systemische Unterdrückung auch noch heute? Das sind Fragen, die dieser Roman für mich aufgeworfen hat.
Zur ausführlichen Rezension: hier.

Schwankende Kanarien von Judith Schalansky (Aline)

Erschienen im Juni 2023, im Verbrecher Verlag; Rezensionsexemplar

Dieses Büchlein ist so dünn, doch der Inhalt ist so groß! Judith Schalanskys Essay „Schwankende Kanarien“ nutzt das Bild des Kanarienvogels (der Bergarbeiter vor drohenden Sauerstoffverlust warnte), um über Frühwarnsysteme in Bezug auf eine drohende ökologische Krise zu sprechen. Reale Katastrophen, wie das Fischsterben in der Oder letztes Jahr werden aufgegriffen und nicht nur als Umweltkatastrophe vor Augen geführt, sondern viel mehr als Warnsignal präsentiert. Dabei bedient sich die Autorin einer feinen, nicht anklagenden, höchstens vielleicht leicht warnenden Sprache. Für diese Mischung aus Poesie und Wissensvermittlung erhielt die Autorin 2023 den WORTMELDUNG Ulrike Crespo Literaturpreis. Nun erschien das Essay im Verbrecher Verlag, wo zusätzlich die Laudatio („Eine Geschichte erzählen, die zählt“) von Philipp Theison und weitere Hintergrundinformationen abgedruckt sind. „Bevor ein Kanarienvogel von der Stange fällt, fängt er an zu schwanken. Bevor ein System endgültig kippt, gibt es oft starke Amplituden (…)“.
Ich habe die Hoffnung, dass das System höchstens schwankt und noch nicht kippt. Jedoch fühle ich mich stark an die von der Autorin Charlotte McConaghy in „Zugvögel“ beschriebene Welt, in der Tiere zum Großteil ausgestorben sind und nur noch wenige ums Überleben kämpfen, erinnert. Eine Welt, die durch die Worte von Judith Schalansky in ihrer Eindringlichkeit aus einer dystopischen Romanwelt in die Realität gehoben werden und nicht mehr als nur bloßes Szenario dargestellt werden. 41 Seiten umfasst das Essay „Schwankende Kanarien“ von Judith Schalansky. 41 eindringlich geschriebene Seiten, die ich mit Sicherheit noch mehrfach lesen werde, um sie in ihrer Tiefe zu begreifen. 

Dieses Jahr hat Luise endlich auch am Dicken Büchercamp teilgenommen, die fest etablierte Lese-Challenge von Marina von Nordbreze in den Sommermonaten. Hierzu hat sie sich für Carter Bays‘ „Freunde von Freunden“ entschieden:

„Freunde von Freunden“ von Carter Bays (Luise)

Erschienen im März 2023, im Ullstein Buchverlag; Rezensionsexemplar

Der Roman von dem How-I-Met-Your-Mother-Autor spielt in New York und war mit seinen 576 Seiten der passende Schmöker für meinen Urlaub, sowohl für die lange Flugreise nach Big Apple als auch für eine ausgiebige Pause im Central Park mit Skyline-Ausblick. Dieses Buch kann man als Offline-Version einer Social-Media-App ansehen. Bis zum Schluss tauchen neue Namen und Beziehungskonstellationen auf – so als würden wir beim Scrollen immer wieder auf neue Accounts stoßen. In der Geschichte werden die Anfänge des Social-Media-Hypes beschrieben, wobei ersichtlich wird, wie unbedarft wir anfangs mit dem so schillernden Phänomen Internet umgegangen sind. Alle Protagonisten lernen mit der Zeit, dass das Internet nicht vergisst. Ich fühlte mich beim Lesen wie beim Binge-Watchen der TV-Serie. Auch hier trafen wir immer wieder auf neue Freunde, Bekannte und Fremde. Und obwohl die Folgen nicht zusammenhängend scheinen, ergibt am Ende alles seinen Sinn.
Zur ausführlichen Buch-Rezension: hier.

Vertrauensübung von Sarah Choi (Aline)

Erschienen im Juli 2023, im Kjona Verlag; Rezensionsexemplar

Sarah und David sind 15 und besuchen die Elite-Schauspielschule CAPA. Während der Sommerferien haben die beiden eine kurze, aber sehr intensive Affäre, die nach Schulbeginn beendet wird, doch deren Spannung nach wie vor spürbar ist. Ihr Lehrer Mr. Kingsley, ein Charismatiker und Sympathieträger, unterrichtet das Fach VERTRAUENSÜBUNGEN und ist der eigentliche Star und Leiter der Schule, von der selbst die Eltern nicht so recht wissen, was da eigentlich passiert.
Man blickt hinter die Kulissen einer nach außen hin scheinbar glänzenden Schule, in deren Inneren es brodelt vor Missgunst und Übergriffigkeiten, in der soziale und ethnische Herkunft ein ständiges Thema sind. Sexuelle Anspielungen und Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen spielen sich im Dunstkreis der Schülerinnen, Schüler und des Lehrpersonals ebenso ab, wie Mobbing und Ausgrenzung. Insgesamt ist der Roman meiner Meinung nach anspruchsvoll, enthält psychologische Verwirrungen und Irrungen, aber ebenso ist er voll von schönen Sätzen, die begeistern, aber auch zur Weißglut bringen können.
Zur ausführlichen Rezension hier.

Cleopatra and Frankenstein von Coco Mellors (Aline)

Englische Ausgabe erschienen im Februar 2022, seit August 2023 im Deutschen erhältlich aus dem Eichborn Verlag

Von der ersten Seite an wird man in die Welt von Cleo und Frank und in die Straßen von New York, die in diesem Roman eher verraucht daher kommen, gezogen. Die Stadt vibriert und alles scheint möglich, der Erfolg liegt auf der Straße, so scheint es zumindest. In diesem Setting begegnen sich Cleo und Frank in einem Fahrstuhl an einem Silvesterabend. Was es ist, was die beiden aneinander finden, ist schwer zu sagen. Vielleicht ist es ihre eigene Einsamkeit, die sie in den Augen des anderen sehen. Das ungleiche Paar, sie Anfang zwanzig, Britin, erfolglose Künstlerin und er, deutlich älter, New Yorker, erfolgreicher Unternehmer, ziehen durch ihre Ausstrahlung, Schönheit und Altersdifferenz alle Blicke auf sich. Die Hochzeit folgt sechs Monate später und jeder kitschige Hollywood-Film würde an dieser Stelle jetzt enden. Doch Coco Mellors Roman „Cleopatra and Frankenstein“ beginnt erst hier. Feinfühlig werden die Charaktere der Protagonist:innen erzählt, tief lässt sie in das Seelenleben nicht nur von Cleo und Frank blicken, sondern auch in das ihrer Wegbegleiter. Wir begleiten die beiden, während sie sich verlieben, verheiratet sind und kurze Zeit später das zarte Glück zerbricht. Die Verführungen werden zu groß, emotionale und finanzielle Abhängigkeiten, Drogen und Alkohol übernehmen die Kontrolle ihrer Leben, die Vergangenheit holt sie ein und anstatt eines Happy Ends, kommt es zum Knall. Statt des Größten holen sie das Schlimmste des anderen ans Licht, bis ihre psychische Gesundheit kippt. Wie viel wirkliches Leben in dem Roman steckt, kann ich nur vermuten, doch in jedem Fall ist es großartig von Coco Mellors beobachtet und in diesen Liebesroman gegossen. Ein Leben, welches hell und dunkel, schön und leicht sein kann und die Momente miteinander verschwimmen lässt. Und auch wenn ich nicht in New York lebe, höchstens mal für vier Tage zu Besuch war, habe ich das Gefühlt, dass diese Stadt mit all ihren Verführungen und Wirrungen großartig dargestellt wurde. 


Dotterland von Karoline Therese Marth (Aline)

Erschienen im August 2023 als Taschenbuch im Literaturverlag Droschl; Rezensionsexemplar

Die Nullerjahre, irgendwo in Österreich: hier wächst Kathlen, die Protagonistin von „Dotterland“, dem Debütroman von Karoline Theresa Marth auf. Zu Beginn scheint das Aufwachsen noch behütet, sie ist oft bei den Großeltern auf dem Land, sie klettert auf Bäume. Und sie erkennt, dass sie nicht die Prinzessin sein will, die ihre Mutter in ihr sieht. Ihr Bruder Thomas wird geboren, die Familie zieht um und es ziehen die ersten dunklen Wolken am Himmel auf. Der Vater ist selten da und wenn, dann liegt er am Wochenenden mit einem Bier auf dem Sofa. Die Eltern trennen sich und Kathlen sieht ihren Vater nicht mehr wieder. Nach einem letzten, wie es scheint, unbeschwerten Sommer kehrt sie aus dem Sommercamp zurück und die Mutter stellt ihren neuen Partner der Familie vor. Fortan wird sie, eigentlich wie zuvor schon, kaum präsent im Leben der Tochter sein. Und Kathlens scheinbar behütete Welt bricht spätestens jetzt, mit dem Beginn der Pubertät auseinander. Sie verliert sich in Freundschaften, Partys, Alkohol und Drogen. Entdeckt ihre Sexualität und die Sehnsucht, nach Geborgenheit, die sie jedoch bei den scheinbar falschen Partner:innen sucht. „Ich brauche keine Männer, aber ohne sie bin ich einsam.“ (S. 64) Das Erwachsenwerden droht ihr zu entgleiten. Karoline Theresa Marth erzählt all das mit einer Sanftheit, die mich die Gefühle der Protagonistin nachempfinden lassen. Gleichzeitig deutet die Autorin immer nur an und lässt vieles unausgesprochen, die Kapitel sind kurz und die Geschichte mittels vieler kurzer Absätze erzählt. Nach knapp 120 Seiten ist die Geschichte zwar auserzählt, doch der viele Leerraum wird ausgefüllt durch etwas Ungesagtes. Dieses Ungesagte hätte ich mir vielleicht ausgesprochen und aufgeschrieben gewünscht, dann würde ich weniger in der Luft hängen, was tatsächlich in Kathlens Welt geschieht. Doch ist es vermutlich wiederum genau das, was den Roman auszeichnet, denn zwischen den Zeilen ist eigentlich auch genug gesagt.

Neben Romanen gab es auch noch Bildbände bei uns, die perfekte Lektüre für heiße Tage!:

Graphic Novel „Simone de Beauvoir“ von Julia Korbik & Julia Bernard (Luise)

Erschienen im Juni 2023 bei Rowohlt

Eher zufällig entdeckte ich die Graphic Novel im Buchladen, die mir durch die stimmigen Illustrationen ins Auge fiel. Da ich mich schon länger intensiver mit Simone de Beauvoir als Person und ihrem Schaffen auseinandersetzen wollte, ließ ich es über die Ladentheke wandern – trotz meiner nicht langen Leseliste für den Sommer. Und ich habe das Buch innerhalb von wenigen Stunden verschlungen.
Simone de Beauvoir avancierte zu einer der einflussreichsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts. Mit ihren neuartigen Werken und ihrer emanzipierten Lebensweise bot sie wesentliche Impulse und kontroverse Denkweisen. So gilt ihre Schrift „Das andere Geschlecht“ oder, wie ich nun erfuhr, im Original „Le Deuxième Sexe“ als feministisches Leitwerk. Wobei ich den französischen Titel schlüssiger finde, mit dem die Autorin verdeutlichen wollte, dass das weibliche Geschlecht nur an zweiter Stelle steht. De Beauvoir ist eine Wegbereiterin dafür, Geschlechterrollen nicht als gegeben hinzunehmen. Die sozialen Unterschiede zwischen Frauen und Männern seien ihrer Meinung nach gesellschaftlich konstruiert.
Die Graphic Novel von Julia Korbik und Julia Bernard zeigt mehr als nur die wissenschaftlichen Theorien de Beauvoirs auf. Sie zeigt sie auch als Mensch mit Emotionen und mit welcher Leidenschaft sie für liberale Werte und Frauenrechte kämpfte. So erfährt man mehr von der Philosophin als Privatperson. Hier hätte ich mir jedoch etwas mehr Tiefe gewünscht. So war sie mit Jean Paul Sarte bis ans Lebensende liiert, in einer offenen Beziehung, als Symbol von Freiheit. Aber fühlte es sich auch immer befreiend oder auch schmerzhaft an? Wie war es für sie, sich in einer männerdominierten Wissenschaftswelt zu behaupten? Die Gefühlswelt de Beauvoirs wird nur angedeutet.
Das Buch bietet aber einen wunderbaren Einstieg in die Welt der Philosophin, von der ich nun mehr erfahren möchte. In der Schule habe ich (natürlich) nur etwas von Sartre gelesen. Dabei steht Simone de Beauvoir alles andere als im Windschatten.


Bildbändchen „I see Vulvas everywhere“ von Lisa Frischemeier (Luise)

Erschienen im Juli 2023 bei DUMONT; Rezensionsexemplar

Vermutlich erinnert sich nahezu jede:r an langweilige Schulstunden, in denen Zettel herumgereicht wurden. Diese waren gerne verziert mit den kreativsten Penisen. Aber warum eigentlich nur Penisse?
Warum nicht mal das weibliche Geschlechtsorgan? Genauso in (veralteten) Biologie- und Aufklärungsbüchern wird es ungern detailliert dargestellt, entgegen des männlichen Geschlechtsorgans. „Bei Vulven könnte man fast glauben, sie wären erst vor Kurzem erfunden worden.“ Umso schöner, dass es einen neuen Trend gibt, Vulvas bewusst zu malen und in Alltagsgegenständen zu sehen. Da ist nicht nur die Banane ein Penis, sondern eben die Wassermelone mit einer Kerbe auch eine Vulva. Lisa Frischemeier zeigt in „I see vulvas everywhere“ nicht nur die kreativsten Vulvas, sondern ordnet gesellschaftlsgeschichtlich die Entwicklung der Vulva-Darstellung ein. Die weibliche Sexualität war mit Scham behaftet. Frauen sollten keine sexuelle Lust empfinden. Schon, dass es eigentlich kein adäquates Wort für das weibliche Geschlechtsorgan gab, ist vielsagend oder dass es gar ein Tabu schien, es auszusprechen. Was wir meinen, wenn wir von den äußeren Geschlechtsorganen sprechen, mit den Vulvalippen und dem Venushügel, ist die Vulva. Die Vagina meint das innere Geschlechtsorgan. Die Scheide ist nur die Vaginalöffnung. „Oh, sie hat Loch gesagt, hi hi hi.“

Dabei gibt es meiner Meinung nach kein schöneres Wort als Vulva für das weibliche Sexualorgan. Es klingt für mich sinnlich und zugleich leidenschaftlich. Der kleine, aber sehr feine Bildband ist eine Ode an die Vulva, an die Weiblichkeit, vielleicht ein Tabubruch. Und es ist 100 % pornofrei, versprochen! Mehr davon, bis es definitiv kein Tabubruch mehr ist.

Und auch Hörbücher waren in den Monaten als Lektüre auf die Ohren wieder mit dabei, auch ideale Reisebegleiter:

„Eine Frau am Telefon“ von Carole Fives

Erschienen 2018 bei Hanser Literaturverlage, als Hörbuch gehört bei BookBeat

Inspiriert von meinem aktuellen Lieblings-Podcast „Zwei Seiten“, mit den Bücherexpertinnen Mona Ameziane und Christine Westermann, habe ich mich zuletzt an ein besondere Buch versucht, das meines Erachtens perfekt als Hörbuch passt: Eine Frau am Telefon“ von Carole Fives. Denn es lebt vom gesprochenen Wort und wenn man es zudem wie ich unterwegs auf Kopfhörern am Handy hört… so könnte es der Titel nicht besser treffen! Das Hörbuch ist kurzweilig. Darüber hinaus finde ich Iris Berben als Sprecherin ideal. Denn das Buch ist kammerspielartig geschrieben und wird durch die schauspielerisch sprachliche Inszenierung Berbens lebendig. Es spielt durchgehend am Telefon und ist ausschließlich aus der Sicht einer Mutter beschrieben, die regelmäßig mit ihrer Tochter telefoniert – das Besondere ist daher die Perspektive, sodass man nie die Gedanken der Tochter erfährt, die Erwiderungen kann man nur erahnen. Dafür erlebt man die Gedanken und Gefühle der Mutter intensiv mit: Charlène ist Anfang sechzig, beide Kinder erwachsen. Dating, Fernsehserien, Enkelkinder, der Hund … unterhaltsame Themen, über die sie mit ihrer Tochter detailliert spricht, aber auch über Ernsthaftes wie Einsamkeit, manische Depressionen oder die Krebserkrankung, die bei Charlène diagnostiziert wird.

Einerseits bringen die Anrufe einen zum Lachen. Charlène ist aber auch selbstsüchtig, politisch aufbrausend, vorwurfsvoll und vor allem widersprüchlich. So hat man anfangs Mitleid mit ihr, weil es so scheint, dass die Kinder andere Prioritäten setzen, als ihre Mutter zu besuchen, nicht mal im Krankenhaus. Zum anderen wirkt sie auf die Dauer anstrengend, launisch. Die Tochter scheint kaum zu Wort zu kommen. Die Umgangsweise der Mutter macht mich mit der Zeit immer wütender mit ihren gefühlt übertriebenen Vorwürfen. Wünschenswert wäre als nächstes eine Fortsetzung aus der Sicht der Tochter.
Insgesamt fand ich es eine wunderbare Unterhaltung für den Moment, gerade durch Iris Berben als Sprecherin – aber es hätte auch keine Seite bzw. Minute länger sein dürfen.

„Die Wahrheit über das Lügen“ von Benedict Wells (Luise)

Erschienen 2018 bei Diogenes, als Hörbuch gehört bei BookBeat

Hörbücher höre ich sehr gerne unterwegs: beim Spazierengehen, auf dem Arbeitsweg oder im Zug. So vergeht die Zeit, aber ich kann mich in den Situationen, ohne große Ablenkungen, auch gut konzentrieren.
Inspiriert durch unser „Über den Tellerrand“-Thema habe ich die Kurzgeschichten von Benedict Wells gehört. Gesprochen von Robert Stadlober, welcher authentisch die Geschichten von Wells transportiert. Bei „Vom Ende der Einsamkeit“ erging es mir bereits so. Die Stories aus dem Erzählband „Die Wahrheit über das Lügen“ haben mich erneut in den Bann gezogen. Besonders spannend fand ich zum einen die titelgebende Geschichte über einen Drehbuchautor, der durch eine Zeitmaschine in das Hollywood der 70er Jahre landet. Er wird George Lucas’ Idee zu Star Wars stehlen. Es ist ein denkwürdiges Gedankenexperiment: Was wäre, wenn wir mit dem Wissen aus der Zukunft in die Vergangenheit reisen? Wie würden wir handeln?
Emotional berührt hat mich zum anderen die Geschichte über eine Vater-Sohn-Beziehung. Jahrelang fiebern die beiden darauf hin, dass ihr Oldtimer den Kilometerstand 100.000 knackt, bis sie im flüchtigen Augenblick diesen langersehnten Moment verpassen. Es führt zu einer bewegenden Aussprache über Erwartungen und Sehnsüchte. Oder die Geschichte von einer einsamen, alten Dame, die auf der Parkbank fremden Leuten von ihrem Leben erzählt. Ihre erwärmenden Erlebnisse mit ihrem noch einzigen Freund, dem Kater Richard, berühren mich als Katzenbesitzerin einmal mehr. Für Fans von „Vom Ende der Einsamkeit“ erzählt Wells gleich zwei ergänzende Geschichten.
Es handelt sich bei den 10 Kurzgeschichten um emotionale, teils fantasievolle Stories. Obwohl sie unterschiedlich scheinen, vereint sie, dass sie von einer wesentlichen Wendung oder Schicksal im Leben handeln, das die Protagonisten dazu zwingt, sich neu auszurichten. Sie lernen jeweils damit umzugehen oder gar das neue Leben zu schätzen. Da jede:r weiß, dass das Leben nicht immer so spielt, wie man es gern hätte, kann man sich gut in die Situationen hineinversetzen. Gerade durch Wells’ ehrliche Sprache!

„Über den Tellerrand“ im Sommer: Jugendbuch, Lyrik & Kurzgeschichten

Auch im Juli und August haben wir zwar über den Tellerrand geblickt, aber jede von uns hatte einen Monat Pause. Unsere Tellerrand-Sommer-Bücher widmen sich daher auch unterschiedlichen Rubriken. Zum einen stellen wir ein Jugendbuch vor und zum anderen ein Lyrikband sowie Kurzgeschichtensammlungen.

Jugendbuch: „Letztendlich sind wir dem Universum egal“ von David Levithan (Aline)
Lyrik: „ich will den blitz nicht verpassen“ von Barbara Peveling
(Luise)
Kurzgeschichten: Aminas Lächeln von Björn Bicker
(Luise)

Gedichte und Kurzgeschichten eignen sich, wie Luise wieder gemerkt hat, wunderbar für eine kurzweilige und zugleich intensive Unterhaltung für zwischendurch. Sie ermöglichen außerdem durch ihre Kürze, dass unfertige Gedanken und Gedankenexperimente im eigenen Kopf weitergesponnen werden können. Genauso findet Aline, dass man durch Jugendbücher in kreative Gedankenspiele, aber auch faszinierende Welten abtauchen kann, egal ob man jung oder alt ist.

Fazit

Der Sommer hat sich zwar in Deutschland ein Weilchen nicht blicken lassen, dennoch war er für uns voll: voll mit Urlaub und Fernweh, Freibad, Natur und Festivals. Und voller vielfältiger Geschichten, Buchgenres und Bucharten, so gab es neben der haptischen Literatur auch Hörbücher und Bildbände.

Mit frischer Energie aus der Urlaubs- und Blogpausenzeit freuen wir uns nun auf den Bücherherbst mit vielversprechenden Bucherscheinungen, Veranstaltungen und Preisverleihungen!

Rezensionsexemplare wurden als solche kenntlich gemacht. Wir bedanken uns bei den Verlagen für die Zusendung.

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