Den 27. Januar erklärte der damalige Bundespräsident Roman Herzog 1996 mit Zustimmung aller im Bundestag vertretenen Parteien zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. An diesem Tag wurde kurz vor Kriegsende 1945 das Konzentrationslager Auschwitz von der sowjetischen Armee befreit. Seither steht Auschwitz symbolisch für die unvorstellbaren Gräueltaten des Nationalsozialismus und die Unmenschlichkeit dieses Systems. Es ist ein Ort der immer Gänsehaut und ein beklemmendes Gefühl auslösen wird, allein wenn man seinen Namen hört.
Kaum vorstellbar ist der Umstand, dass bis in die sechziger Jahren viele noch nie etwas von diesem Ort gehört haben sollen. Die Leute haben in der Nachkriegszeit vorerst verdrängt und der Krieg war ein Tabuthema. Nach den Nürnberger Prozessen schienen die Hauptverantwortlichen der Kriegsverbrechen verurteilt und damit die Entnazifizierung abgeschlossen. Danach wollte niemand mehr irgendetwas davon hören. Jedoch sollten im Frankfurter Auschwitz-Prozess die Mittäter verurteilt werden, diese, die zwar keine Hauptverantwortlichen im Krieg waren, aber dennoch die Macht genutzt haben, um Unschuldige zu foltern, zu misshandeln oder zu töten – in dem größten Vernichtungslager der Geschichte. Annette Hess‘ Roman „Deutsches Haus“ macht den Frankfurter Auschwitz-Prozess und die Macht der Verdrängung in der Nachkriegszeit zu ihrem zentralen Thema.
Debütroman der Drehbuchautorin von Weißensee und Ku’damm-Serie: „Deutsches Haus“ von Annette Hess
erschienen im Ullstein Verlag Oktober 2018 (hier mehr zum Buch)
Inhalt
Frankfurt, 1963: Die Übersetzerin Eva hat mit ihren zwanzig Jahren bis lang noch nichts von dem Ort Auschwitz gehört. Der Krieg scheint Geschichte, bis sie am dritten Advent plötzlich zu einem Übersetzungsauftrag vom Polnischen ins Deutsche gerufen wird. Jemand sei in irgendeinem Lager durch Gas in einer Dusche umgekommen? Das scheint irreal, gar zu ungeheuerlich. Sie hört von dem Prozess, der bald in ihrer Stadt stattfinden soll.
Da der Übersetzer der Staatsanwaltschaft nicht einreisen darf, fragt letztere – wenn auch erst widerwillig, da sie eine Frau ist – bei Eva Bruhns an, zu übersetzen. Zuerst lehnt sie ab, da ihr zukünftiger Verlobter Jürgen und ihre Eltern dagegen sind. Als sie bei der ersten Anhörung als Besucherin teilnimmt und davon überwältigt werden soll, beschließt sie, sich entgegen der Meinung ihrer Familie und ihres zukünftigen Ehemanns durchzusetzen und nimmt den Job an.
Von Verhandlungstag zu Verhandlungstag wird sie mehr und mehr Zeuge eines ungeahnten Verbrechens, das nicht nur einige wenige, sondern ihr Volk, dem sie angehört, nahezu kollektiv zu verantworten hat. Der Umstand, dass sie bereits als kleines Kind die Zahlen von eins bis zehn auf Polnisch aufsagen konnte und sich an einen Mann mit einer tätowierten Zahl auf dem Arm erinnert, lässt sie auch immer mehr in ihre eigene Familiengeschichte eintauchen und sich die Frage stellen: Was hatte ihre Familie mit Auschwitz zu tun?
Kritik
„Deutsches Haus“ so heißt die Gaststätte der Eltern von Eva. Doch kann der Titel meiner Meinung nach im doppelten Sinn verstanden werden. Er steht mit dem Namen der Gaststätte nicht nur sinnbildlich für die Familie Bruhns, um die es geht, sondern auch für diese Kollektivschuld der Deutschen im Nationalsozialismus. Hätten sie nicht alle gemeinsam in irgendeiner Form das System getragen und mehr oder weniger eine Mitverantwortung gehabt, sei es auch nur durch Schweigen und Nichts tun, hätte das „Kartenhaus“ nie so lang standhalten und funktionieren können. Dieses Schweigen hält auch in der Nachkriegszeit an. Eva Bruhns steht für eine ganze Generation, die erst herausfinden musste, was es mit dem Ort Auschwitz auf sich hat.
Der Autorin, Drehbuchautorin von Weißensee und Kudamm 56/59 gelingt zum einen die Abbildung der Gesellschaft im Westen der sechziger Jahre. Eva und ihre Schwester scheinen anfangs nur ein Gesprächsthema zu haben: ob Eva denn endlich Jürgen, den jungen Mann der wohlhabenden Familie Schoormann heiraten und somit in die gehobene Schicht der Stadt aufsteigen darf. Eine Karriere einer Frau definiert sich darüber, welchen Mann sie heiratet. Doch bedeutet diese Heirat auch unüberwindbare Gegensätze der beiden Schichten, der der Bourgeoisie und des einfachen Arbeitervolkes.
Zum anderen zeigt Annette Hess auf, wie das deutsche Volk in der Nachkriegszeit mit der Vergangenheit umging. Viele wollten von den Prozessen nichts hören und verschwiegen nahezu alles, was mit dem Krieg zu tun hatte. Jeder hatte sein Päckchen zu tragen, aber eben auch seine Schuldgefühle. Dass Auschwitz als ganzer Ort verschwiegen wurde, ist ein Beweis für die Dimensionen des Krieges, die zum Teil das Vorstellbare überstiegen. Das Ausmaß der Verdrängung ist ähnlich unvorstellbar: Jeder wusste Bescheid, aber gleichzeitig wurde dennoch vieles in einen Schleier gehüllt und nicht darüber geredet. Man wollte die Vergangenheit am Liebsten einfach vergessen…
Fazit
Da die Autorin vorher vor allem Drehbücher geschrieben hat und ich die Ku’damm-Reihe, trotz des Nachkriegssettings als „Wohlfühlserie“ wahrnahm, war ich gespannt, ob Annette Hess ein Roman über solch ein sensibles, ernstes Thema gelingen würde. Ich muss feststellen, dass das Buch für mich eine sehr positive Überraschung ist. Zum Glück habe ich zum Ende des Jahres noch verschlungen und konnte es so zu meinen Lesehighlights 2018 zählen: Das Buch fängt die Bedeutung der Aufarbeitung des Krieges und die Vergangenheitsbewältigung in den 60er Jahren sehr gut ein und ist ein beeindruckender Familienroman der Zeitgeschichte. Dieses Buch empfehle ich jedem, der nicht der Meinung ist, dass man die Geschichte ruhen lassen sollte, sondern Generation für Generation sich mit dieser auseinandersetzen muss, damit „Auschwitz nie wieder geschehe“ wie der Philosoph Adorno es formulierte. Diejenigen, die die Vergangenheit ruhen lassen wollen, empfehle ich das Buch auch.
Weitere Empfehlungen
Bundeszentrale für Politische Bildung zum Frankfurter Auschwitz-Prozess
Suche und finde Geschichte – Rezension des Comics „Die Suche“ (+ Besuch im Anne-Frank-Museum Berlin)
Der Film „Im Labyrinth des Schweigens (Trailer)“ zum gleichen Thema. Dort geht es um die beteiligten Richter des Prozesses. Diesen Film kann ich euch nur sehr empfehlen!
Am 27. Januar, zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, veranstaltet das Abgeordnetenhaus von Berlin jährlich das Jugendforum denk!mal, wo Kinder- und Jugendliche der Stadt sich unter anderem mit Projekten an einer Ausstellung beteiligen können: Schaut euch doch gern dieses Jahr vom 28. Januar bis 05. Februar 2019 im Abgeordnetenhaus (Niederkirchnerstr. 5, Berlin) die Ausstellung an!
Danke für diesen Lesetipp, liebe Luise. Das Buch „Deutsches Haus“ wird auf meine Leseliste eingetragen.