Einmal tief Luft holen: Eine Rezension zu „Iva Atmet“ von Amanda Lasker-Berlin

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Da wir in unserem Schwerpunktthema dieses Jahr unabhängige Buchverlage vorstellen wollen, habe ich mich vor einiger Zeit durch das Verlagsprogramm der Frankfurter Verlagsanstalt gewühlt. Dabei bin ich auf ein Buch aufmerksam geworden, welches mich angesprochen hat nicht nur, da es in Dresden spielt, meiner Heimatstadt, sondern insbesondere auch, da es die deutsche Kolonialzeit aufgreift. Besonders dieses Thema reizt mich, da ich mich ehrlicherweise bisher wenig bis gar nicht mit den ehemaligen Kolonien Deutschlands und den Verbrechen von Deutschen in den Kolonien beschäftigt habe. Speziell auf Namibia, ehemals Deutsch-Südwestafrika bezogen, gab es in der letzten Zeit in der Presse ein paar Artikel zu lesen, da sich die Bundesregierung mit der Regierung Namibias rund 100 Jahre nach den Völkermorden auf eine Wiedergutmachung geeinigt hat (*Mehr zum Thema am Ende des Beitrags). Ich bin jedenfalls sehr gespannt, wie insbesondere die koloniale Geschichte in „Iva Atmet“ besprochen wird.

„Iva Atmet“ von Amanda Lasker-Berlin, erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt im März 2021

"Iva Atmet" von Amanda Lasker-Berlin
„Iva Atmet“ von Amanda Lasker Berlin

Inhalt

Der Vater von Iva ist schwer krank und liegt im Sterben. Und so macht sich Iva seit langer Zeit mal wieder auf den Weg nach Dresden und lässt ihren Ehemann und das Kleinkind zurück in Wuppertal. Vor dem Eingang zur Villa der Familie in Dresden stehen drohend einbetonierte Köcherbäume, die zum Sinnbild der Geschichte werden sollen. Der Vater hat sie nach dem Umzug der Familie vor vielen Jahren, Iva war damals zwölf, von Wuppertal nach Dresden dort einbetoniert. Die Bäume sind eine Erinnerung der Oma, die in Deutsch-Südwestafrika aufgewachsen ist, was gleichzeitig das Herkunftsland der Bäume ist. Mit dem Sterben des Vaters sieht Iva sich nun ganzheitlich mit ihrer Familiengeschichte konfrontiert. Die Familie ist zerrüttet: Kontakt zu ihrer Mutter hat sie seit der Trennung der Eltern nicht mehr, auch nicht zu ihren Geschwistern. Ihre Zeit in Dresden wirbelt nun alte Bilder in Iva hervor, die sie bis dahin erfolgreich verdrängt hatte. Bilder, durch die Iva an den Bruder denkt, der kritisch die Nazi-Vergangenheit des Vaters und Großvaters hinterfragt. An eine Zeit in der Villa in Dresden, in der verschwörerische Treffen, bei denen der Vater auf die alten Zeiten mit Gleichgesinnten anstößt, stattfinden. Bilder an die Mutter, die verweint und betrunken den Salon verlässt und dabei heimlich von Iva und ihrer Schwester beobachtet werden. Oder an die Oma, die verträumt in dem alten Fotoalbum blättert und sich zurückerinnert, an ihre Zeit in Afrika. Während sie alles daran setzt, ihren Vater aus dem Krankenhaus zurück nach Hause und zum Sterben zu holen, beginnt Iva sich nach und nach von ihrer Vergangenheit zu befreien und lernt, wieder durchzuatmen.

Kritik

Köcherbäume, wie sie in Namibia wachsen, sind in diesem Buch nicht nur ein hübsches Bild auf dem Cover, sondern eine Versinnbildlichung davon, wie Iva beginnt wieder durchzuatmen. Auf den Kopf gedreht, wie auf dem Cover zusehen, erinnert die Verästlung der Bäume an Lungenflügel. Iva selbst vergleicht ihre Asthmaerkrankung mit dem Rascheln von Laub in ihrer Lunge. Sobald Iva emotional stark aufgewühlt ist, nimmt das Rascheln in ihrer Lunge zu. Die Befreiung Ivas von der eigenen emotionalen Last der Vergangenheit ist das eigentliche Motiv des Romans und damit Verbunden die Aufarbeitung ihrer eigenen Familiengeschichte. Diese Metapher, die die Autorin benutzt um den innerlichen Konflikt Ivas zu beschreiben, finde ich sehr gelungen.

Köcherbaum wie er vor der Wuppertaler Villa der Familie stand

Neben der starken Metapher des Köcherbaums, hat mir an „Iva Atmet“ besonders gut gefallen, das es ein Generationsroman ist, der versucht, Grenzen zu sprengen. Ob es sich bei den verschwörerischen Treffen des Vaters nun wirklich um die „alten Zeiten“ handelt, erfahren die Leser:innen nie so ganz genau und kann nur Vermutungen anstellen. Ebenso wie die Vergangenheit des Urgroßvaters, der mutmaßlich Verbrechen an der Bevölkerung in Deutsch-Südwestafrika begangen hat, aber worüber nie so richtig gesprochen wurde. Einzig die Erzählungen der Oma über ihre Flucht aus Deutsch-Südwestafrika geben Iva ein Hinweis darauf, was vor sich gegangen sein muss. Und Iva fragt auch nie so genau nach. Nicht bei der Oma, nicht bei dem Vater und erst recht nicht bei der Mutter, die sie durch Zufall in Dresden wiedertrifft. Durch Rückblendungen in die Vergangenheit von Iva setzt sich so sehr langsam ein Bild von Ivas Familiengeschichte zusammen, über die zu jedem Zeitpunkt ein Deckmantel des Schweigens gelegt wurde, wie vermutlich in vielen Familien. Gleichzeitig beginnt Iva sich mit ihrer eigenen Verantwortung auseinander zusetzten. Die Frage nach der Schuld und inwieweit Generationen 100 bis 70 Jahre nach einem Verbrechen die Schuld mittragen, liegt wie ein Damoklesschwert über ihr und führen zu ständigen Diskussionen zwischen Iva und ihrem Ehemann, der durch seine jüdische Herkunft eine ganz eigene Rolle als Unterstützer Ivas in diesem Roman zugesprochen bekommt.

Iva Atmet
Das eindrückliche Cover von „Iva Atmet“

Fazit

Der Roman ist stark. Aber die Stärke kommt nur versteckt daher und zeigt sich erst Tage später, nachdem man ihn ausgelesen oder anderen davon erzählt hat. Die Tragweite und Entwicklung der Figur Ivas ist eher still und weniger spektakulär, und als sie beinahe eine Liebelei zu einer ihr Unbekannten beginnt, ist der Pfad schmal, auf welchem die Autorin wandelt und durch den der Plot der Geschichte beinahe verrissen hätte werden können. Aber das passiert Amanda Lasker-Berlin zum Glück nicht und sie behält den beinahe reißenden roten Faden in der Hand. Hinter der Erwartung zurückbleibt, wie intensiv die deutsche Kolonialzeit in Deutsch-Südwestafrika besprochen wird. Das finde ich zwar schade, aber im Nachhinein stelle ich fest, das mir der Roman dadurch einen seichten Einstieg in ein mir literarisch, politisch und historisch völlig unbekanntes Thema gewährt. „Iva Atmet“ ist eine große Leseempfehlung für alle Fans von Familiengeschichten.

Infos zur Frankfurter Verlagsanstalt

Die ersten Vorgänger der Frankfurter Verlagsanstalt (FVA) blicken auf das Gründungsjahr 1920,1951 und 1987 zurück. Im Oktober 1994 übernimmt Joachim Unseld die stillliegende Frankfurter Verlagsanstalt (FVA). Bereits ein Jahr später erscheint das erste Programm, mit sieben Titeln pünktlich zur Frankfurter Buchmesse. Der Verlag fokussiert sich in seinen Programmen auf ein rein literarisches Buchprogramm von neuen und herausragenden Autor:innen und bietet ein kleines aber dezidiertes Programm an. 2016 gewinnt die FVA den deutschen Buchpreis mit Bodo Kirchhoffs „Widerfahrnis“. 2019 erhält der Verlag den deutschen Verlagspreis.

Website zum unabhängigen Verlag: https://www.fva.de/

*Mehr zum Thema:
https://www.rnd.de/politik/einigung-mit-namibia-echte-entschaedigung-haette-teuer-werden-koennen-O57XM26VS5B5XG7QBTQ3GOWRUY.html
https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/deutschland-kolonialverbrechen-namibia-101.html

Vielen Dank an den Verlag für die Zurverfügungstellung des Rezensionsexemplares. Dies hat meine Beurteilung zu dem Buch nicht beeinflusst.

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