#gemeinsammitlesen: Delphine de Vigan: „Die Kinder sind Könige“, ein Leseeindruck

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Die Romane „Loyalitäten“ und „Dankbarkeiten“ von Delphine de Vigan haben mich beim Lesen direkt in ihren Bann gezogen. Die Autorin reißt einen durch ihren lebhaften und gleichzeitig feinsinnigen Sprachstil mit, sie hat eine besondere Beobachtungsgabe, die sie auf’s Papier bringen kann. Zudem macht sie nicht vor schweren Themen Halt, wie psychische Gewalt an Kindern, Verlust oder Tod, sondern schafft es sogar, dass es sich trotz dessen leicht liest. Sie zählt zu einen der wichtigen Stimmen der französischen Gegenwartliteratur. Entsprechend war mir sofort klar, dass ich auch ihren neuen Roman lesen möchte.

Gleichzeitig steigen die Erwartungen, wenn man bereits Fan ist. Deshalb kommt es gut gelegen, dass „Die Kinder sind Könige“ die neue Lektüre von #gemeinsammitlesen ist, ein Online-Lesezirkel von dem Autor Torsten Woywod und der Literaturbloggerin Ilke Sayan von Buchgeschichten, in Kooperation mit dem Dumont-Buchverlag. So konnte ich zwischenzeitlich meine Leseeindrücke mit anderen Teilnehmer:innen teilen und auch für mich bewusster reflektieren.

„Die Kinder sind Könige“ von Delphine de Vigan

erschienen bei Dumont, März 2022

„Die Kinder sind Könige“ von Delphine De Vigan

Inhalt

Mélanie ist Mutter von zwei Kindern im Grundschulalter, Sammy und Kimmy. Sie sind als Familie berühmt, sehr berühmt sogar, denn immerhin haben sie Millionen Follower auf ihrem YouTube Kanal „Happy Récré“*. Mélanie war bereits im Jugendalter fasziniert von Reality-TV-Shows wie Big Brother. Sie hat sogar selbst einmal an einer teilgenommen, doch ohne erhofften Ruhm. Doch als sie Mutter wird, beginnt sie nach und nach ihren Alltag auf Social Media zu dokumentieren und bemerkt, dass es gut ankommt. Sie erlangt auf eine neuartige Art die gewünscht Prominenz. Ihr werden immer häufiger Produkte zugeschickt, die sie auf ihren Kanälen bewerben soll, sie beginnt Geld mit ihren Accounts verdienen. Als ihre Kinder größer werden, werden sie immer stärker miteinbezogen. Mélanie selbst bleibt eher im Hintergrund, filmt, leitet ihre Kinder an, wenn sie Pakete mit Spielzeug und Süßigkeiten auspacken. „Unboxing-Videos“ sind der Anfang, doch je mehr die Follower-Zahl steigt, desto mehr will und muss die Familie an Content liefern. Der Vater kündigt seinen Job, um aufwendige Videos zu schneiden. Es kommt einer Reality-Show gleich, in der die Zuschauer:innen fast den gesamten Alltag der Familie und vor allem der Kinder mitverfolgen können. Sammy und Kimmy sind Stars. Doch das Mädchen beginnt sich, je älter sie wird, dem zu widersetzen, sie wird dem Öffentlichkeitswahn und dem Prinzessinnengehabe, dass sie an den Tag legen muss, um den Anforderungen der Werbepartner gerecht zu werden, überdrüssig.

Bis sie eines Tages plötzlich spurlos verschwindet. Clara, die ermittelnde Polizistin stößt auf ein für sie unbekanntes Phänomen mit dem Hype rund um Online-Stars, sie dagegen lebt eher zurückgezogen. Vor allem bemerkt sie, wie schwer es ist, einen Verdächtigen auszumachen, wenn die Fotos und Videos des Kindes millionenfach geteilt werden und überall im Netz kursieren. Alle Spuren und Verdachtsmomente verlieren sich schnell im Sand.

„Die Kinder sind Könige“ – Wenn der Alltag stetig durch die Kamera dokumentiert wird, sind wir entweder in einer Reality Show oder auf Social Media.

Kritik

Die Influencerin Mélanie und die Polizistin Clara arbeiten eng zusammen bei der Suche nach der vermissten Kimmy, aber es wird auch erkennbar, dass sie Gegenspielerinnen darstellen sollen. Die Geschichte wird hauptsächlich aus ihren Perspektiven heraus beleuchtet. Clara lebt allein und zurückgezogen – auch schon als Kind war sie Einzelgängerin. Sie wuchs eher mit Büchern wie „1984“ und mit der frühen Teilnahme an Demos auf, da ihrer Eltern Aktivisten waren. Die Online-Welt scheint ihr dagegen fremd. Mélanie geht wiederum genau darin auf. Likes, Follower und Kommentare unter ihren Videos geben ihr Kraft. Ihr sind Oberflächlichkeiten wie Aussehen, Geld und Ruhm wichtig. Es werden meiner Meinung nach mit dieser Figur einige Klischees bedient, was ich von Delphine de Vigan weniger gewöhnt bin. Ich werde vor allem anfangs mit der Figur Mélanie nicht warm. Den Charakter und die Beschreibung von Clara ermöglichen mir mehr Zugang. Zwar wie von einigen aus dem Online-Lesezirkel festgestellt, ist es nicht so ganz nach vollziehbar, weshalb ihre eigene Kindheit und Entwicklung so ausführlich beschrieben werden, da es für die Geschichte selbst weniger Relevanz hat. Aber das stört mich persönlich weniger, da es vor allem um die Gegenüberstellung zweier Parallelwelten zu gehen scheint, die heutzutage existieren: Eine schnelllebige Online-Welt, in der keinen Fantasien Grenzen gesetzt wird gegenüber der Realität, die langsamer und weniger schillernd ist.

Zu Beginn fehlt mir jedoch die Intensität und Emotionalität der Sprache von Delphine de Vigan, die ich bei den anderen Romanen von ihr unmittelbar gespürt habe. Deshalb bin ich noch irritiert, unsicher, ob ich wieder überzeugt werden kann. Protokolle der Vernehmungen aber geben dem Roman einen authentischen Anstrich. Und die Spannung steigt, denn immer wieder müssen Spuren auf der Suche nach Mélanies Tochter fallen gelassen werden, wegen fehlender Indizien und Beweise. Die Online-Welt, in der jeder Schritt und Tritt dokumentiert wird, zeigt ihre Tücken auf – etwas, dass man am Internet noch immer unterschätzt: die Macht des Bildes zieht sich durch alle Lebensbereiche.

Der Austausch mit den anderen Leser:innen verhilft mir mit der Zeit, mich stärker in die Handlung einzufinden. Denn über die Folgen und Auswirkungen von Familienblogs habe ich vorher wenig bis gar nicht nachgedacht, z.B. dass es an Kinderarbeit grenzt. Da Bloggen im privaten Raum stattfindet, ist die Kontrollierbarkeit, anders als bei Kinder-Schauspielstars, wenig gegeben, zum Beispiel wieviel Zeit für Videodrehs oder Fotoshootings verwendet wird. Außerdem glauben manche Eltern, das uneingeschränkte Recht am Bild ihrer Kinder zu haben oder sie geben vor, dass diese freiwillig mitmachen würden. Die Frage hier ist, ob sie sich wehren können. Dazu kommt, dass die Kinder durch Werbekooperationen schnell selbst Werteplattformen werden und dies nicht ausreichend reflektieren können. (Siehe Links im Anschluss)

Auch Mélanie scheint stetig die Augen bewusst vor diesen Problematiken verschließen zu wollen und dementiert diese. Sie wolle doch nur das Beste für ihre Kinder, scheinbar. Immerhin würde dann auch ihr Traum, ein Star zu sein, zerplatzen. Und sie wäre arbeitslos. Selbst wenn ich sie im Laufe der Geschichte als Person stärker greifen kann und ihre Emotionen ehrlich wirken, bleibt sie schockierend oberflächlich und mir wenig zugänglich. Aber das, denke ich, ist beabsichtigt, um zuzuspitzen.

Die Autorin zeigt wesentliche Lücken in gesellschaftlich existierenden Strukturen auf:
„Im Grunde hatten YouTube und Instagram den Traum eines jeden Jugendlichen wahr werden lassen: geliebt zu werden, Fans und Menschen zu haben, die einem folgten. Mélanie war eine Frau ihrer Zeit. So einfach war das. Um zu existieren musste man Aufrufe, Likes und Stories anhäufen.“
Genauso kann auch mich mich als Bloggerin diesem Sog der Likes nicht immer entziehen, sie zeigen einem, ob die Arbeit, die man in den Blog steckt, Früchte trägt. Einen Blog betreibt man zwar aus Spaß, aber nicht vollkommen für sich allein, man möchte, dass andere die Beiträge lesen. Durch die enorme Zuspitzung allerdings finde ich die Bloggerwelt im Roman hingegen zum Teil etwas zu negativ dargestellt, viele Mamabloggerinnen zum Beispiel geben meines Erachtens sehr wohl Acht, ihr Kinder nicht oder nur sehr wenig vor der Kamera zu zeigen. In dem Roman entsteht schnell eine Pauschalisierung und Verallgemeinerung.

Zum Ende hin kommt ein Twist, den ich gelungen finde, die Geschichte wird in die Zukunft versetzt. Denn immerhin sind Mama- und Familien-Influencer erst in den letzten Jahren richtig beliebt geworden. Das heißt, die entsprechenden Auswirkungen werden wir erst in einigen Jahren erfahren, zum Beispiel welche psychologischen Folgen es für Kinder haben kann, in einer Influencer-Familie aufzuwachsen. Insgesamt haben auch alle Figuren noch einmal mehr an Konturschärfe gewonnen. Zum anderen, für meinen Geschmack, hätte dieser dritte Abschnitt allerdings einen deutlich prominenteren Anteil haben können, da er in die Metaebene geht. Insofern hatte ich den Eindruck, dass die Autorin plötzlich schnell fertig werden wollte. Hier hätte ich mir einen ausführlicheren Ausblick auf die Zukunft der Familien- und Kinderblogger gewünscht.

Zwei von Delphine de Vigans Vorgängerromanen „Loyalitäten“ und „Dankbarkeiten“.

Fazit

Delphine de Vigan hat zwei Experimente gewagt, zum einen den Blick in die Zukunft, im Zusammenhang mit einem neuartigen Phänomen, dem der Familien-und Kinder-Influencer und die möglichen Konsequenzen dessen, der ihr insgesamt gelungen ist. Sie legt den Finger in die Wunde und spricht in jedem Fall ein wichtiges, aber auch sensibles Thema an.
Und zum anderen hat die Autorin gewagt, einen Kriminalroman zu verfassen. Die Idee, eine Kriminalgeschichte um ein so brisantes Thema herum hat mich anfangs direkt angezogen. Zumal es für sie meines Wissens ein neues Terrain ist, der Kriminalroman. Aber vielleicht war das letztendlich auch ‚das Problem‘, weshalb ich des Öfteren nicht so richtig mitgenommen werden konnte. Zugegebenermaßen bin ich mir nicht sicher, ob ich bis zum Ende dran geblieben wäre, wenn ich nicht an der Leserunde teilgenommen hätte. Die Vorgängerromane der Autorin haben mich doch mehr überzeugt. Aber letztendlich bin ich froh, das Buch durchgelesen zu haben, denn ich wurde gut unterhalten und habe vor allem wichtige Denkanstöße mitgenommen.

Nun bin ich auf den Live-Stream mit der Autorin gespannt, dem i-Tüpfelchen der Leserunde. Vielleicht kann ich ihre Hintergründe und Absichten dann noch mehr nachvollziehen. Ich bin gespannt und werde bestimmt auf Instagram berichten!

Danke an den Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars.

Weiterführende Links

Hier erfahrt ihr jeweils mehr über bestehende Richtlinien und Gesetze in Deutschland zum Thema Veröffentlichung von Videos und Fotos mit Kindern. Außerdem erfahrt ihr (auch für private Nutzung), wie ihr selbst mit euren Kindern in der Öffentlichkeit umgehen solltet/könnt.

Alice Joe: Familienblogger – Wenn Unterhaltung Jugendschutz gefährdet
Mai Lab: Sollte ich mein Kind im Internet zeigen?

*Happy Récré bedeutet übersetzt glückliche Pause. Ich verstehe den Namen des Familienkanals so, dass man eine gute, glückbringende Auszeit hat, wenn man diese Videos konsumiert. Leider wird es nicht konkret erklärt).

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