Kastaniengeflüster – Ein Leserückblick auf den Oktober 2022

Die Bäume haben ihr Sommerkleid nun schon fast alle fallen lassen, ein paar wenige Blätter hängen noch an den Bäumen, die in Rot-, Gelb- und Brauntönen verfärbt sind. Kastanien und Eichen schmücken die Gehwege. In Hamburg erleben wir einen goldenen Oktober, die Sonne scheint kräftig vom blauen Himmel und wärmt die Gemüter vor den kommenden Wintermonaten noch einmal richtig schön auf. Unser Lesemonat war fast genauso bunt wie die Blätter an den Bäumen. Wir sind gedanklich auf Reisen gegangen, haben Außenminister:innen begleitet, haben uns mit Politik auseinandergesetzt und sind in die Vergangenheit abgetaucht. Luise hat im Hinblick auf fünf Jahre #metoo gleich eine ganze Bücherreihe vorgestellt. Aline hat in diesem Monat gleich drei Bücher gelesen, die sie jetzt schon zu ihren Jahreshighlights zählen würde. Mal sehen, was das Jahr noch so bringt? Jetzt blättern wir aber erst Mal zurück in unseren:

Lesemonat Oktober

Kastaniengeflüster

„Vorglühen“ von Jan Müller (Luise)

Presseexemplar / erschienen im Juli 2022, Ullstein Verlag

1994: „Ein Roman, so intensiv wie eine durchfeierte Nacht.“
Albert Bremer zieht es nach der Schule aus der Provinz nach Hamburg. Bei einem Konzertabend lernt er nicht nur Claus kennen, seinen Seelenverwandten, was Musik betrifft, sondern auch seine zukünftigen Freunde Susesh, Gernot und Toni. Sie ziehen von Bar zu Bar, trinken viel zu viel Bier. Albert lernt an diesem Abend die coolste Frau der Welt kennen, Diana. Er findet eine WG auf St. Pauli und seine erste richtige Band. Die Proben und das WG-Leben bestimmen ab sofort Alberts Tagesablauf, das Vorglühen die Nächte. Er fühlt sich frei. Nur seinen Eltern traut er nicht zu sagen, dass er nicht mehr in der Einraumwohnung in Barmbek wohnt und Hörsäle selten von innen sieht. Und sein Beziehungsstatus mit Diana? Der ist kompliziert… Hier geht es zur vollständigen Rezension: Klick

„Schön ist die Nacht“ von Christian Baron (Aline)

Presseexemplar / erschienen im Juli 2022 im Ullstein Verlag

In „Schön ist die Nacht“ hat der Autor Christian Baron zwei Freunde porträtiert, die vieles verbindet, aber auch vieles trennt. Es ist 1973 als wir Horst und Willy kennenlernen. Zu der Zeit sehnt sich Willy vor allem nach einem normalen Leben. Er will seine Arbeit als Zimmerer gut machen und träumt vom eigenen Häuschen. Jedoch stößt er mit seiner ehrlichen Art immer wieder an Grenzen. Horst, ein ungelernter Hilfsarbeiter, glaubt schon lange nicht mehr daran, auf ehrliche Weise nach oben zu kommen. Er greift zu halbseidenen Mitteln und seine Existenz entgleitet ihm in dem Maße, in dem er seine Aggressionen nicht im Griff hat. In die Spirale des Abstiegs zieht er seinen Freund Willy hinein. Drei Teile teilen das Buch ein und von Kapitel zu Kapitel verfolgt der Leser immer mehr, wie toxisch sich die Freundschaft zwischen Willy und Horst entwickelt. … hier geht es zur vollständigen Rezension: Klick

Es gilt das gesprochene Wort“ von Sönke Wortmann (Aline)

erschienen im Oktober 2021 im Ullstein Verlag

Das Buch wird auf meiner persönlichen Hot-List für dieses Jahr landen, waren meine Gedanken, als ich die letzte Seite von „Es gilt das gesprochene Wort“ umblätterte. Und obwohl ich das Buch im Sommer gelesen habe, finde ich erst jetzt die Worte über den Roman von Sönke Wortmann zu sprechen. Aber auch drei Monate später hallt der Roman noch in mir nach und auch seinen Platz hat es auf meiner persönlichen Hot List noch nicht einbüßen müssen. Als Regisseur weiß Wortman vermutlich nicht nur, wie man Geschichten auf den Bildschirm, sondern auch auf dem Papier sehr lebendig und lebhaft darstellt. Die Kritiken sagen, das sein Debütroman so „komisch und tragisch, berührend und klug, wie seine Filme“ sei und das lass ich mal so stehen.
Franz-Josef Klenke arbeitet als Redenschreiber für den Außenminister Hans Behring und begleitet ihn regelmäßig auf seinen Auslandsreisen. Auf einer diesen nach Marokko, wo über ein Rücknahmeabkommen illegaler Flüchtlinge verhandelt werden soll, begegnet die Delegation Cornelius von Schröder. Dieser hat seine ganz eigene Vorstellung und Agenda zum Thema Migration, die doch erheblich abweicht von dem, was die Delegation vor hat. Und so beginnt die Geschichte ihren Verlauf, die durch Kapitel aus der Sicht der jeweiligen Protagonisten geschildert ist. Als Leserin habe ich daher zu jeder Zeit das Gefühl, an der Seite der Protagonisten zu sein. Ich sitze im Taxi zwischen Franz-Josef und seiner Freundin. Ich spüre die warme marokkanische Abendluft auf meiner Haut und ich rieche den muffigen Geruch der Besprechungsräume. Gewürzt mit einer Prise Ironie und einem tollen sprachlichen Ausdruck, Auszügen und Zitaten von Politikern der Zeitgeschichte und einer bewegenden Rede des Außenministers im Buch machen es schlussendlich für mich rund. Schade nur, das es keine Außenministerin geworden ist😉.

„Die Heldin reist“ von Doris Dörrie (Aline)

erschienen im Februar 2022 im Diogenes Verlag

Doris Dörrie ist bekannt als Drehbuchautorin durch Filme wie „Männer“, „Mitten ins Herz“ oder „Kirschblüten – Hanami“. Neben Filmen veröffentlichte sie aber auch zahlreiche Kurzgeschichten und Romane sowie ein Sachbuch über das Schreiben („Leben, schreiben, atmen“). Bei ihrer neusten Veröffentlichung „Eine Heldin reist“ handelt es sich scheinbar um eine autobiografische Erzählungen, die in der Coronapandemie entstanden ist. Es geht um Doris, eine Frau die immer mit offenen Augen durchs Leben wandelt. Sie ist eine Heldin, die mal alleine, mal mit einer Freundin und auch mit einem Mann durch die Welt reist und in sehr persönlichen Rückblenden ihre Stationen in den USA, Japan und Marokko beschreibt. Der rote Faden, die oft männlich besetzte Heldenreise, wie man sie zum Beispiel von der griechischen Mythologie, den Gebrüder Grimm oder großen Hollywoodfilmen kennt, nutzt sie dafür und erzählt sie weiblich. „Ich habe keinen Kampf geführt, nicht dem Drachen ins Auge gesehen, sondern er nur mit mir. Ich bin keine Heldin, ich bin nur gereist. Ohne Not, ohne dringenden Anlass. Ich bin nicht ausgezogen, um das Fürchten zu lernen. Dies ist keine runde Story. Sie bietet keine Erkenntnis, keinen Erfolg, keinen abgeschlagenen Drachenkopf“. Sie bietet aber eine starke Frau, die ihren Weg in einer von Männern dominierten Welt mit erhobenen Haupt begegnet. Die sich offen mit ihrem Frausein auseinandersetzt und wie eine echte Heldin, manchen Männern, die Parole wie Odysseus früher das Schwert bietet. In meinem letzten Beitrag zu dem Roman „Es gilt das gesprochene Wort“ von Regisseur Sönke Wortmann war ich vollends begeistert. Auch Doris Dörrie hat ihre Wurzeln im Filmgeschäft. Besteht hier möglicherweise ein Zusammenhang? Sind Filmschaffende die „besseren“ Romanautoren?


„Beinah Alaska“ von Arezu Weitholz (Aline)

erschienen im April 2022 im Goldmann Verlag

Mit dem Schiff reist die Icherzählerin in Arezu Weitholzs Roman „Beinah Alaska“ von Grönland nach Alaska. Von ihrem Verlag wurde die 45-Jährige losgeschickt, um die Arktis zu fotografieren. Der Roman ist ein Reisebericht, der tief in die Gedankenwelt der Protagonistin einfühlen lässt. Der die Mitreisenenden warmherzig, aber häufig auch sarkastisch porträtiert. Wie zum Beispiel, wenn die zumeist älteren Herrschaften sich beim Bordpersonal beschweren, weil eine Durchfahrt durch das Packeis einfach nicht mehr möglich ist und die Reiseroute geändert werden muss. Oder wenn mitreisende Autoren Schreibkurse geben. Über die Bordwand geblickt, erstrahlt am Horizont ein tiefblaues Eis und eine unfassbar schöne Landschaft der Arktis vor meinem inneren Auge. Ich sehe, wie die Gäste des Schiffs in kleinen Booten an Land gebracht werden und in knallorangenen Jacken durch die unberührte Landschaft wandern oder Bekanntschaften mit Einwohnern der Küstendörfer machen. Wenden wir den Blick zurück in das Innere, sehen wir die Gedankenwelt der Icherzählerin. Gedanken, die nicht zu Ende gedacht oder neu begonnen wurden, werden thematisiert. Eine Trennung und das Kinderlossein. „Es wird keinen Mord geben, keine Leichen, kein Monster, keinen Unfall, keine abgefrorenen Nasen oder Zehen. (…) Stattdessen wird es um das ganz normale Leben gehen, in dem man ein bisschen redet und ein bisschen lügt, (…). Es wird eine Aussicht geben, eine Leere, in der alles entstehen kann – und nichts.“ Und somit wird eine ansonsten fast banal wirkende Kreuzfahrt zu einer Lebensoffenbarung. Eine Reise zum selbst, die dazu führt, dass die Protagonistin erkennt, dass das Leben nicht aus dem Ankommen, sondern aus dem Beinahe-ankommen besteht. So wie sie beinahe in Alaska angekommen wäre, wäre da nicht die vereiste Passage gewesen. Mehr Tiefgang geht schon fast nicht mehr, oder?

„Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“ von Naomi Somalvico (Aline)

Presseexemplar / erschienen im Februar 2022 bei Voland & Quist

Können wir uns kurz ein Schwein aufrecht gehend auf seinen zwei Beinen vorstellen? Die Lippen sind rot und die Augenlider silber geschminkt. Auf dem Kopf trägt es selbstbewusst einen glitzernden Hut. Schwein wird von Dachs begleitet. Dachs hat nämlich einen Apparat erfunden, mit dem man von der Welt, in der Schwein lebt, in die Wohnung von Gott wechseln kann. Schwein und Gott geht es ähnlich, beide fühlen sich allein vielleicht sind sie sogar einsam. Schwein wurde gerade von einer Liebe verlassen, Gott fühlt sich von der Familie nicht ganz so ernst genommen. Gut, dass dann auf einmal Dachs und Schwein an seinem Tisch sitzen und das Dreiergespann sich auf die Suche nach dem Jenseits begibt, wo sie scheinbar alles das finden, was sie in ihren jeweiligen Welten vermissen und das erste Mal so richtig Urlaub machen können. Naomi Somalvico, die Autorin des schmalen Fabelromans „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“, erzählt fein, „saukomisch“ und oft auch zum Nachdenken anregend diese wunderbare Geschichte, die mit Sicherheit viel Spielraum für Gedankenspiele ermöglicht. Zum Beispiel, wenn Gott für seine Schöpfung kritisiert wird: „Aufteilung von Wasser und Land gut. Auch die Proportionen sind passabel geraten. Aber den Mond könntest du mal auswechseln und diese Erde: Willst du so viele Städte, so viel Verkehr? Du hast ja kaum noch freies Land. Warum tust du nichts? Mit deiner passiven Haltung geht dieses Ding früher oder später den Bach runter. Mach doch mal einen Kurs. Entwicklungsstrategie, Fortschritt oder so.“ Aber nicht nur das Leben auf der Welt wird thematisiert. Es geht auch um Freundschaft – um Freunde, die auch in schwierigen Situationen füreinander da sind und aufeinander achtgeben. Möglicherweise habe ich in der Schule das letzte Mal eine Fabel gelesen und bin begeistert von diesem Büchlein, mit dem Naomie Somalvico diese Form der Literatur für mich aus dem Jenseits in das Diesseits zurückgeholt hat.

I can`t believe I still have to protest this shit (Luise)

Dieses Mitbringsel aus meinem Schwedenurlaub soll der Auftakt einer Buchtipp-Reihe zum Thema #metoo und Feminismus sein. Immerhin wird die Bewegung rund um den Hashtag fünf Jahre alt. Heute ist es ein Hashtag. Aber früher waren Plakate im Kampf um die Gleichberechtigung oft das beste Kommunikationsmittel, wenn andere verweigert wurden. Der schwedische Bildband vereint eine Sammlung von Plakaten der letzten 100 Jahre Feminismusgeschichte aus verschiedensten Ländern. Zu entdecken gibt es zum Beispiel ein Plakat zum Aufruf des Frauenwahlrechts 1914 in Deutschland, ein Plakat der Suffragetten-Bewegung in Frankreich (auch 1914). Dabei ist auch ein Plakat der anonym operierenden Aktivismusgruppe Guerilla Girls, mit dem die Menstruation entabuisiert werden soll, aber auch ein Plakat aus Schweden, das aufzeigt, dass der Kampf für Frauenrechte für alle Kulturen und Hautfarben gilt. Plakatsprüche wie „We should all be feminists“ von 2017 und „We all can do it“ das letzte Plakat (2022) des Bildbands bedeuten für mich, dass wir bei uns anfangen sollten und unseren Beitrag dazu leisten können, um Frauenrechte und weibliche Selbstbestimmung zu stärken. Wir Frauen haben heutzutage das Glück, auf feministische Vorreiterinnen aus hunderten von Jahren Geschichte zurückblicken zu können, die hart kämpften und gar um ihr Leben fürchten mussten. Und dennoch dürfen wir uns nicht ausruhen und sollten selbst aktiv werden, ganz nach dem Motto: „I can’t believe that I still have to protest this shit“. Und auch wenn ich leider die Texte, die auf schwedisch sind, nicht verstehe, so finde ich die Sammlung der Plakate sehr bereichernd – sind sie in ihren Messages doch aussagekräftig genug.

„Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch“ von Kristina Lunz (Luise)

erschienen im Februar 2022 im Ullstein Buchverlag , gehört als Hörbuch von Saga Egmont

Kristina Lunz ist eine deutsche Feministin und Aktivistin. Als Mitbegründerin des „Centre for Feminist Foreign Policy”, eine gemeinnützige Forschungs- und Beratungsorganisation, denkt sie mit ihrem Engagement Frieden, Menschenrechte und Gerechtigkeit mit Außenpolitik zusammen und will so einen Paradigmenwechsel einleiten. „Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch“ schlägt einen komplexen Bogen von der Geschichte feministischen Engagements in der internationalen Politik bis heute. Länder wie Schweden, Kanada, Mexiko oder Frankreich haben bereits eine feministische Außenpolitik in ihren politischen Grundsätzen verankert. Auch Annalena Baerbock als erste Außenministerin Deutschlands hat sich die Leitlinien auf die Fahnen geschrieben.
Laut Lunz dominieren noch immer patriarchale Strukturen die Theorie und Praxis der internationalen Beziehungen. Geschlechterhierarchien beeinflussen internationale Konflikte und führen dazu, dass das männliche Machtgefüge über Krieg und Frieden entscheidet. Feministische Außenpolitik macht sich nicht nur für die Abwesenheit von Krieg stark, sondern sieht Frieden als einen allumfassenden Zustand, in dem der Schutz von Menschenrechten gelebt wird und das Individuum im Vordergrund steht. Geschlechtergerechtigkeit und gleichberechtigte Teilhabe sind dafür wesentliche Voraussetzungen. Und nicht nur sicherheitspolitische, sondern auch gesundheitspolitische oder klimaschutzpolitische Aspekte werden in den Blick genommen.
Da das Hörbuch für mich als Einstieg in die Theorie dienen sollte, hätte ich mir insgesamt etwas mehr Kompaktheit gewünscht. Doch präsentiert Kristina Lunz mit ihrem Sachbuch eine allumfassende wissenschaftliche Analyse und gibt damit einen differenzierten Überblick in die Theorie und Praxis der feministischen Außenpolitik. Die Autorin bringt einen dazu, den bestehenden Status Quo der internationalen Beziehungen zu hinterfragen und Sicherheits- und Außenpolitik neu zu denken.

Weitere Buchtipps zum Thema #metoo und Feminismus sind hier nachzulesen: Klick


Fazit

Das war er also unser Oktober, mit einer Vielfalt an Themen und Büchern die uns begeistert haben. Der November wird nicht minder spannend, denn wir werden unter anderem das erste Mal an einer Preisverleihung teilnehmen, wenn auch nur online, aber gleich zwei nominierte Bücher dazu vorstellen.

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