Kälte, Dunkelheit und regnerisches Wetter auf der einen Seite. Gemütliche Lesestunden auf dem Sofa und aufkommende Adventsstimmung auf der anderen Seite – das war der November! In diesem Übergang zwischen Herbst und Winter schafft man sich mit einem guten Buch die perfekte Auszeit vom Grau da draußen. Hier folgt unser Monatsrückblick:
Podcast
So gibt es in der neusten Podcastfolge cozy Speed-Date-Tipps für die Adventszeit sowie Einblicke in die Schmökerbox, eine Überraschungsbox mit einem Buch und passenden Goodies dazu: Also eine perfekte Geschenkidee für Buchliebhaber:innen! Hier geht’s zur Advenstgeschmöker-Folge.**


Unsere Bücher – Kurz zusammengefasst
In Treppe aus Papier* hat Hendrik Szántó einem Haus eine Stimme gegeben und lässt es in einer beobachtenden Rolle die Geschichte der 90-jährigen Irma, ihrer ehemaligen Nachbarin Ruth und der Teenagerin Nele erzählen, die jetzt ganz oben wohnt. Durch eine Begegnung im Treppenhaus, in der Gegenwart erzählt, entsteht ein zartes, generationenübergreifendes Band zwischen Ruth und Nele, das für Aline von Szántó feinfühlig, fließend und poetisch beschrieben wird.
Luise lehnt sich wohl nicht aus dem Fenster, indem sie behauptet, dass dieses Jahr über kein anderes Buch so viel gesprochen wurde wie über Die Assistentin* von Caroline Wahl. An die Vehemenz von Wortwiederholungen muss man sich gewöhnen, genauso an Wahls neuen, sarkastischen Schreibstil, der die vierte Wand durchbricht und Ereignisse vorwegnimmt. Nach Luise ist es aber ihr gutes Recht, diesen Weg zu wählen, um Distanz zu schaffen. Denn die eigentliche Absurdität steckt im toxischen Verhalten des Verlegers, das eindringlich beschrieben wird. Luise mochte, dass sich das Buch dennoch leicht und nahbar liest – Sogwirkung hat und gleichzeitig irritiert!


Vernesa Berbo schrieb bereits für das Theater, bevor nun mit Der Sohn und das Schneeflöckchen* ihr erster Roman erschien. Und vielleicht ist es gerade ihr Einfluss aus dem Theater, der den Roman so lebendig und kraftvoll erscheinen lässt. Er ist gleichzeitig ein Plädoyer für den Frieden wie auch eine Aufzeichnung über all die Gräueltaten, die während der Belagerung Sarajevos 1992 geschahen – für Aline ein intensiver Roman, der lange nachhallt.
Baba Issues * behandelt im Kern den stetigen, inneren Konflikt: Kulturelle Prägung vs. eigene Bedürfnisse und ist eine essayistische Untersuchung der prägendsten und schwierigsten Beziehung im Leben der Autorin und Fernsehmoderatorin Tessniem Kadiri: der zu ihrem Vater. Die Stärke des Buches liegt für Luise in dieser schonungslosen Selbstreflexion im Kontext von Emanzipation und Identität und wird durch eingestreute, ehrliche Briefe an den Vater verdichtet.


Der 9. November – ein ambivalenter Gedenktag, an dem wir den Mauerfall als Ausgangspunkt für das Ende der DDR feiern. Gleichzeitig gedenken wir den Opfern der Reichspogromnacht 1938, das als Übergang der Nazis zur systematischen Vernichtung der Juden galt. Nun folgt eine passende Romanempfehlung von Luise.
Ein Lesehighlight – Annett Gröschners Schwebende Lasten
Erschienen im März 2025 bei CH Beck, Longlist des Deutschen Buchpreises
📖(S. 153-154) Nur der Dom wirkte von Weitem unbeschädigt. Öd und leer war die Fläche bis zur Elbe, wo es statt der alten Strombrücke eine Behelfsbrücke gab. Die alte Struktur war höchstens in verwischten Umrissen zu erkennen. (…) Es war einfach zu bedrückend.
Annett Gröschners Schwebende Lasten ist wohl der erste zeitgenössische Roman, der meine Heimatstadt Magdeburg als Hauptschauplatz auswählt. Er erzählt von Alltagsheld:innen, von einem irgendwie ganz normalen Leben in einer normalen, deutschen Stadt inmitten der Katastrophen des letzten Jahrhunderts. Darin liegt für mich eine enorme Wucht: Vor dem Zweiten Weltkrieg arbeitet Hanna Krause als Blumenbinderin in ihrem eigenen Laden. In der DDR muss sie zur Kranfahrerin umschulen. Sie ist Mutter von sechs Kindern, wobei sie zwei Verluste nie loslassen. Sie erlebt sowohl den 9. November 1938 als auch 1989, und alles dazwischen. Sie erlebt zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, Krieg und Schmerz. Doch war sie weder eine glühende Widerstandskämpferin, noch eine Anhängerin des Systems, so trägt sie, wie viele Zeitgenossen, das Credo Durchs-Leben-kommen – als stille Heldin des Ostens. Für mich wird Magdeburg sinnbildlich zur zweiten Heldin: Die Stadt wird von Krisen und Kriegen hart getroffen, doch ihre Bewohner:innen harren aus. Die mir vertrauten Schauplätze erwecken Stadtgeschichte zum Leben. Dabei lerne ich sogar Neues, etwa über das im Krieg ausgelöschte Viertel Knattergebirge. Die zu Beginn eines Kapitels sanfte Beschreibung einer Blume, etwa über den Charakter sozusagen, aber auch Beschaffenheit und Blütezeit, bilden einen Kontrast zur Härte des Lebens und der harten Arbeit als Kranfahrerin. Blumen sind das Sinnbild für Hannas Suche nach Schönheit inmitten des Überlebenskampfes – ihr Mittel, um Emotionen auszudrücken. Das Buch hat eine unbändig stille Kraft und ist ein Herzensbuch geworden!



Interview mit der Autorin
1 – Die Geschichte von Hanna Krause ist im Kern die eines ganz normalen Lebens.
Warum war es Ihnen so wichtig, dieses unfassbare 20. Jahrhundert gerade anhand
dieser Normalität zu erzählen?
Mich interessiert die Geschichte der Mächtigen nur bedingt. Schon immer waren
die Auswirkungen von politischen Entscheidungen für Menschen ohne Macht
wichtiger für mich. Besonders die der Frauen. Gibt es die Möglichkeit, den
Verlauf der geschichte auch von unten zu beeinflussen? Wie gelingt es, anständig
zu bleiben in Zeiten ohne Anstand und Menschenrechte. Und was ist, wenn es nicht
gelingt? Ich halte es mit Anna Seghers‘ „Kraft der Schwachen“.
2 – Sie leben seit Jahren in Berlin. Wie kam es, dass Sie die Geschichte tief in
Ihrer Heimatstadt Magdeburg verankern?
Schon früh, da war ich noch nicht lange in Berlin, habe ich mir vorgenommen,
dieses Leben in Magdeburg zu erzählen. Ich bin als Teenagerin im Groll aus
Magdeburg weggegangen, aber mich hat immer auch interessiert, warum die Menschen
in der Stadt so hart waren und so misstrauisch jedem gegenüber, der anders war
als sie, was das mit den Verhältnissen, Strukturen und der geschichte der Stadt
zu tun hat.
3 – Welche Rolle spielt die Welt der Blumen, die Hannas ursprüngliche Berufung
war, für die Architektur des Romans – gerade in Kontrast zur Stahlindustrie?
Blumen und Stahl bilden ein ähnliches Oxymoron wie Schwebende Lasten.
Ich persönlich mag Industrie oder Benzingerüche genauso gerne wie die der
Blumen, ich bin und bleibe ein Kind des Industriezeitalters, auch wenn ich der
Industrie nicht nachtrauere. Sie war eine mächtige Dreckschleuder. Die Blumen
sind das Gerüst und die Geschichte des Gemäldes das transzendente Element des
Romans.
4 – Ihr Roman setzt den unsichtbaren Frauen im Osten Deutschlands ein Denkmal.
Was möchten Sie bei den Lesenden – im Osten wie im Westen – mit dieser
Geschichte bewirken?
Ich will als Autorin in erster Linie so gut, wie es mir möglich ist, erzählen,
ich kann keine Wirkung berechnen, sowas geht immer schief. Ich kann da nur meinem
Instinkt und Wissen folgen, damit die Geschichte schlüssig ist und gut erzählt.
Wenn ich Glück habe, treffe ich mit meinem Buch einen Nerv der Zeit, bei den
anderen Büchern hoffe ich, dass sie spätere Generationen für sich entdecken.
5 – Angesichts der politischen und gesellschaftlichen Debatten über
Ostdeutschland: Was denken Sie, kann man aus Hannas Erfahrungen in der DDR und
der Wendezeit für die aktuelle Situation im Osten lernen?
Ich bin skeptisch und ein gebranntes Kind aus DDR-Zeiten, was die pädagogische
Wirkung von Literatur angeht. Auch bin ich nicht schlauer als andere Menschen. Es
geht nur über Umwege. Vieles an der jetzigen Situation hat mit unaufgearbeiteten
Traumata und Kränkungen zu tun. Sie zu erzählen, kann ein Anstoss sein, über
die Gegenwart nachzudenken.
Vielen Dank, liebe Annett Gröschner!
*Rezensionsexemplare
**Wir danken der Schmökerbox für die Bereitstellung einer Box.
