Blick hinter die Kulissen – Eine Rezension zu „Vertrauensübung“ von Susan Choi

Besondere Geschichten habe ich mir für das zweite Halbjahr vorgenommen. Geschichten, die mich aus meiner eigenen Blase herausholen und mich bewegen. Geschichten, die ich vielleicht zuvor noch nicht gelesen habe. „Vertrauensübung“ von Susan Choi ist ganz frisch im Kjona Verlag erschienen und erfüllt dem Klappentext nach alle Kriterien, schauen wir also mal genauer rein.

„Vertrauensübung“ von Susan Choi
Erschienen im Kjona Verlag im Juli 2023
, übersetzt von Tanja Handels und Katharina Martl

Inhalt

Sarah und David sind 15 und besuchen die Elite-Schauspielschule CAPA. Während der Sommerferien haben die beiden eine kurze, aber sehr intensive Affäre, die nach Schulbeginn beendet wird, doch deren Spannung nach wie vor spürbar ist. Schnell bekommen ihre Mitschüler:innen Wind von dem, was zwischen den beiden, die unterschiedlicher nicht sein könnten, gelaufen ist. Sarah stammt aus einfachen Verhältnissen, finanziert sich mit ihrem Nebenjob ein Auto. David hingegen stammt aus reichen Verhältnissen und führt ein scheinbar sorgenfreies Leben. „Im Ruhezustand, selbst wenn beide bloß geradeaus schauten, war der Draht zwischen ihnen gespannt, und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler machten Umwege, um nicht darüber zu stolpern.“ (S. 15). Ihr Lehrer Mr Kingsley, ein Charismatiker und Sympathieträger, unterrichtet das Fach VERTRAUENSÜBUNGEN, in dem sie und ihre Mitschüler:innen mit verbundenen Augen über den Boden kriechen oder andere Übungen zur Stärkung des Vertrauens machen müssen. Kingsley ist der eigentliche Star und Leiter der Schule, von der selbst die Eltern nicht so recht wissen, was da eigentlich passiert. Das Ende der Affäre zwischen Sarah und David setzt jedoch eine gefährliche Dynamik in Gang, die über die Schulmauern hinaus strahlt und die von Kingsley in seinem Unterricht aufgegriffen und ausgeschlachtet wird.

Viele Jahre später veröffentlicht Sarah einen Roman, der die Geschehnisse damals aufgreift und eine neue Protagonistin einführt: Karen, die als beste Freundin an der Seite von Sarah war, aber nun ihre eigene Perspektive erzählt. Die beiden begegnen sich, mittlerweile erwachsen, auf einer Lesung wieder und auf den folgenden Seiten wird durch Susan Choi erzählt, was damals scheinbar wirklich abgelaufen ist und wie sehr die Wahrheit durch Sarah gedehnt wurde. Das schlussendlich dritte Kapitel wird aus Clares Perspektive, auf der Zeitachse noch einmal einige Jahre später, geschrieben.

Rezension

Alle drei Frauen sind durch ein unsichtbares Band verbunden, heben die fiktionale Erzählung in eine mögliche Realität und lösen den Zauber einer Elite-Schauspielschule auf. Man blickt hinter die Kulissen einer nach außen hin scheinbar glänzenden Schule, in deren inneren es brodelt vor Missgunst und Übergriffigkeiten, in der soziale und ethnische Herkunft ein ständiges Thema und über eine schillernde Zukunft oder nicht entscheiden kann. Sexuelle Anspielungen und Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen spielen sich im Dunstkreis der Schülerinnen, Schüler und des Lehrpersonals ebenso ab, wie Mobbing und Ausgrenzung. „Erinnerungen an den unfassbaren Ereignisreichtum aus Zeit, Wandel und Emotion, zusammengepresst wie Schießpulver im Gewehrlauf.“ (S. 23) Susan Choi erzählt all das mit einer unfassbaren Ruhe und mit einem Abstand, der mich als Leserin jedoch nie zu tief in die Geschichte einsaugt. Sie hebt die Protagonist:innen auf eine Bühne, ohne nicht auch ihre Verfehlungen und dunklen Seiten zu beleuchten. Sie schreibt, ohne Dinge auszusprechen, sondern lässt sie wie etwas Subtiles mitschwingen. Als die Kapitel wechseln, der Roman im Roman aufgelöst wird und die Perspektiven wechseln, wechselt auch die Erzählweise. Doch am Ende ist dennoch nie ganz klar, wessen Wahrheit eigentlich erzählt und welche Ereignisse überzogen wurden. Fest steht, dass alle drei, Sarah, David und Karen einander in einen Abgrund gezogen haben, über den Kingsley herrscht und auf den er hinabblickt. Clare ist leider zu einem unnötigen Opfer des Bühnenschauspiels geworden.

Ob man den Roman man nun gut finden soll, oder nicht, weiß ich nicht. Das erste Kapitel hat seine Längen, das zweite ist genau richtig und das dritte lässt mich etwas ratlos zurück. Insgesamt ist er meiner Meinung nach anspruchsvoll, enthält psychologische Verwirrungen und Irrungen, aber ebenso ist er voll von schönen Sätzen, die begeistern, aber auch zur Weißglut bringen können, denn was sie eigentlich aussagen, weiß ich manchmal am Ende nicht.

Fazit

Und dennoch ist es vielleicht genau das, weswegen man „Vertrauensübung“ in die Hand nehmen sollte. Es als eine Art Vertrauensübung in sich und Susan Choi betrachten sollte. Ein Buch, das Perspektiven öffnet und wieder verschließt, das aber in jedem Fall eine Geschichte erzählt, die durch ihre Erzählweise für mich neu und daher bisher unentdeckt war.

Vielen Dank an den Verlag für das Rezensionsexemplar

Über den Kjona Verlag

Lars und Flo lieben Bücher und sind die Geschäftsführer des Kjona Verlag. „Wir wollen für euch ein inspirierendes, diverses Literaturprogramm kuratieren, mit regelmäßigen Ausflügen ins Sachbuch. Ob originelle und emotional intensive Geschichten oder augenöffnende gesellschaftliche Analysen – Kjona soll ein Programm mit Charakter sein: klein, aber fein. Exklusiv, aber nicht elitär. Anspruchsvoll, aber nicht abgehoben.“ Nebenbei legen sie auch noch viel Wert auf Nachhaltigkeit, denn das Papier ihrer Bücher ist recyclebar, Druckfarbe aus Pflanzenöl, statt Mineralöl gewonnen und statt Klebebindungen sind die Bücher Fadengeheftet. Darüberhinaus werden Übersetzter:innen direkt auf dem Cover genannt. Zur Website des Verlags: https://kjona.eco/shop/

Kommentar verfassen