Ein ganzes Land im Koma? Eine Rezension zu „Der ehemalige Sohn“ von Sasha Filipenko

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Belarus hat rund 10 Millionen Einwohnern, grenzt im Osten an Russland, im Norden an Litauen und Lettland, im Westen an Polen und teilt sich im Süde die Grenze zur Ukraine. Seit 1994 wird das Land durch den autokratischen Regierungschef Alexander Lukaschenko regiert. Im August 2020 wurde dieser mit vermeintlich 80,1 % der Wählerstimmen erneut im Amt bestätigt. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben dieses offizielle Ergebnis jedoch aufgrund von massiver Wahlfälschung und Menschenrechtsverletzungen nicht anerkannt. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit wurde Alexander Lukaschenko jedoch im September 2020 erneut in das Amt des Präsidenten eingeführt, welches damit einer demokratischen Legitimation entbehrt (Quelle: Auswärtiges Amt). Eine Zeit lang beherrschten daraufhin Nachrichten über Massenproteste in Minsk auch die deutschen Nachrichten und ich las unter anderem in meiner Facebook-Timeline viele Beiträge, welche die Repressionen des weißrussischen Regimes thematisierten. Die Proteste halten auch nach wie vor an, doch das Land befindet sich in einer Art Stillstand: fast wirkt es wie eine Pattsituation zwischen Regierung und Opposition. „Das derzeitige Patt spielt Lukaschenko in die Hände. (…) Die weissrussische Protestbewegung indes wie auch der Westen wirken ratlos. Europäische Länder erhalten die Sanktionen aufrecht, wenngleich sie kaum Veränderung erzwingen können.“ (Quelle: NZZ). Im Herzen dieses Landes spielt der Debütroman von Sasha Filipenko „Der ehemalige Sohn“, welches bereits 2014 auf Russisch und nun erstmalig auf Deutsch erschienen ist.

„Der verlorene Sohne“ von Sasha Filipenko, erschienen im Diogenes Verlag im März 2021 Link zur Verlagsseite

„Der ehemalige Sohn“ von Sasha Filipenko

Inhalt

Der junge Franzisk lebt mit seiner Großmutter und Mutter in Minsk, wo er im Konservatorium zur Schule geht. Eigentlich soll er Cellospielen üben, blickt jedoch sehnsüchtig in den Innenhof seines Wohnblocks, wo andere Kinder Fußball spielen. Heimlich legt er eine Kassette ein, auf der die Klänge seines Cellospiels erklingen. Er will raus in den Innenhof und muss sich dafür an seiner Großmutter vorbeischleichen, die ihn mit Argusaugen bewacht und immer wieder zum Üben verdonnert. Das Davonschleichen gelingt diesmal zwar nicht, aber er findet immer wieder Gelegenheiten, das Leben in Minsk gemeinsam mit seinen Freunden zu genießen. Zum Schuljahresende droht ihm jedoch der Ausschluss aus dem Konservatorium, da seine Leistungen zu schlecht sind und die Bestechungszahlungen der Großmutter nicht mehr ausreichen. Und so macht er sich am Schuljahresende auf dem Weg zu einem Open-Air Rockkonzert im Zentrum seiner Heimatstadt. Aufgrund eines Wolkenbruchs versuchen sich alle Konzertbesucher:innen in einer U-Bahn Unterführung unterzustellen, der Platz reicht jedoch nicht aus und eine Massenpanik bricht aus. Franzisk befindet sich mitten in der Menge, droht zerquetscht zu werden, wird aber ganz knapp gerettet. Aufgrund seiner schweren Verletzungen fällt er jedoch ins Koma. Nach einem Jahrzehnt geschieht das, woran niemand außer seine Großmutter, von der er aufopferungsvoll gepflegt wird, mehr geglaubt hat: Er wacht wieder auf. Er wacht in einem Land auf, welches sich seit dem Rockkonzert kaum verändert hat.

Ein politisch sehr aktueller Roman

Kritik

Dem eigentlichen Roman steht ein Vorwort des Autors vorneweg, in welchem er den Roman im Kontext zu den aktuellen Geschehnissen in Belarus aufzeigt und eine Einordnung vornimmt. Sein Buch ist in seinem Heimatland nur unter der Ladentheke erhältlich und doch so etwas wie ein Bestseller. Darüber hinaus wurde es mit einem russischen Literaturpreis ausgezeichnet. Bereits dieses Vorwort empfinde ich aufgrund der Dringlichkeit der Worte, die der Autor wählt, und besonders in Anbetracht der aktuellen Ereignisse bewegend.

Im eigentlichen Roman beschreibt der Autor die kurze Jugend seiner Hauptfigur Franzisk und sehr detailliert (fast schon etwas zu sehr) die Massenpanik, die zu seinem Koma führte. Der Hauptteil bildet die Zeit im Koma, in der er aufopferungsvoll von seiner Großmutter gepflegt wird. Sie redet viel mit ihm, erzählt aktuelle Nachrichten, putzt sein Krankenzimmer, schickt ihm eine Prostituierte (sie denkt, dass er durch Stimulation vielleicht aufwachen könnte) und streitet sich immer wieder mit dem der Regierung nahestehenden Chefarzt (gleichzeitig der Stiefvater von Franzisk) und den Krankenschwestern. Den Abschluss des Romans bildet die Zeit nach dem Aufwachen von Franzisk aus dem Koma und seiner Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Die Kritik an der Regierung und dem politischen System des Landes, in welchem Franzisk und seine Familie lebt, zieht sich dabei durch jede Zeile des Romans. Es wird von maroden Krankenzimmern erzählt, Bestechungen sind an der Tagesordnung und auch die Beziehungen zu Deutschland und Russland werden eng diskutiert. Diese Kritik ist so subtil und gewitzt in die Geschichte eingewoben, dass sie sich dabei meiner Meinung nach unmöglich von der tatsächlichen Politik Belarus trennen lässt. Der Roman kommt ohne Kapitel aus und erhält dadurch einen wunderbaren Lesefluss, der nicht durch unnötige Unterteilungen unterbrochen wird. Der Erzählbogen ist dabei zu jederzeit klar und springt kaum in den Perspektiven.

Auszug aus dem Roman „Der ehemalige Sohn“ von Sasha Filipenko

Fazit

In dem Land, in welchem Franzisk wieder aufwacht, ist alles noch genauso, wie zu der Zeit, bevor er in das Koma gefallen ist. Der gleiche autoritäre Präsident ist an der Macht, Familien verlassen scharenweise das Land und Proteste werden durch den Regierungsapparat erstickt. „Wir leben im besten Land für erwachende Komapatienten. Hier ändert sich absolut nichts. Egal, wie lang sie im Koma liegen. Monatelang, jahrelang, ewig…“ Diese Metapher ist so bemerkenswert für mich. Meiner Interpretation nach könnte Franzisk nicht nur ein Bürger des Landes sein, der erwacht, sondern einer von vielen – erwacht vielleicht bald das ganze Land?! Wunderbar ergänzt wird das Buch durch Anmerkungen der Übersetzerin: Um den deutschsprachigen Leser:innen eine bessere historische und politische Einordnung sowie Hintergrundinformationen zu vermitteln, werden diese von ihr in den Nachbemerkungen aufgegriffen. Insgesamt wird das Buch dadurch für mich als Leserin zu einem sehr lesenswerten Stück Zeitgeschehen und ist schon jetzt einer der bisher besten Neuerscheinungen des Jahres.

Links zum Weiterlesen:
https://www.voiceofbelarus.com/about/
https://www.tagesschau.de/thema/belarus/

Vielen Dank an den Verlag für die Zurverfügungstellung des Rezensionsexemplares. Dies hat meine Beurteilung zu dem Buch nicht beeinflusst.

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