#jesuischarlie

Ich bin Charlie, auch jetzt noch.

Shakespeare and Company
Dunkel war es draußen, als ich am 07.01.2016 aufstand, nur der Schnee glänzte perlend zart. Berlin schien so friedlich und ruhig. So muss es auch den Parisern letztes Jahr ergangen sein, dachte ich mir. Ein Tag, scheinbar wie jeder andere, nur dass sich rot ins schwarz und weiß mischte. Rot wie Blut am als seitdem bezeichneten „schwarzen Tag der Pressefreiheit“ im Büro der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“, als es dem unfassbaren Attentat zum Opfer fällt.
Dieses Jahr hat sich das Team der Karikaturisten an einem geheimen Ort in Paris verbarrikadiert. Doch waren sie mutig, eine Sonderausgabe zu drucken,  die provokativer nicht sein konnte. Genau über diese möchte ich schreiben.
Gern hätte ich schon letztes Jahr die Ausgabe unmittelbar nach dem Angriff auf die Zeitung gekauft. Auch da wurden kritische Stimmen laut, dass das Titelbild zu herausfordernd sei und die Grenzen der Satire ausgereizt würden. Zu sehen war der Prophet, betend und wie er Mitgefühl ausdrückt, indem er ein Schild mit der Aufschrift „jesuischarlie“ hochhält. Im Islam ist es verboten, sich ein Bild vom Propheten zu machen und entsprechend Zeichnungen von ihm anzufertigen. Nur war die Botschaft meiner Ansicht nach genau richtig. Religionen und deren verehrten Botschafter propagieren Nächstenliebe und gemeinsamen Frieden, sie würden vergeben und trauern. Die Fundamentalisten hingegen legitimieren ihre Selbstmordattentate und Angriffe mit der Religion und im Namen Gottes oder des Propheten. Sie behaupten, die einzige richtige Meinung im Sinne des wahren Glaubens zu haben.
Die Ausgabe letztes Jahr war allein schon in Frankreich so schnell vergriffen und wurde durch die unerwartete hohe Nachfrage in Deutschland nur an ausgewählten Stellen verkauft. Für mich war es nahezu unmöglich, sie zu bekommen. Das Heft verkaufte sich stolze 7.000.000 Mal. Deshalb war es mir dieses Mal bei der zweiten Sonderausgabe umso wichtiger, wenn ich jetzt schon einmal in Berlin wohne, auch davon zu profitieren. Ich hab sie entsprechend stolz in der Hand gehalten, als ich sie im Kiosk ein Glück gefunden hatte.
Das aktuelle Titelbild setzt tatsächlich noch einmal eine Schippe drauf. Sichtbar durch das Auge der Vorsehung/ das allsehende Auge/ das Auge Gottes scheint Gott selbst dargestellt zu werden, welcher fliehend davon läuft: „L’assassin court toujours“ – Der Mörder ist noch auf der Flucht – er rennt immer noch wörtlich übersetzt, heißt es. Die Zeitung Charlie Hebdo zeigt sich von ihrer glanzvollen spöttischen und sarkastischen Seite im klassischen Sinne der Satire. Gott wird als Mörder interpretiert. Religion und Gott als Totschlagargumente buchstäblich vorzuschieben, dass sie die Rechtfertigung für Morde „Andersdenkender“ oder von fundamentalen Islamisten als „Nichtgläubige bezeichnet“ werden, wird damit verurteilt.

Fraglich bleibt für mich, ob Religion durch diese Karikatur allgemein verurteilt wird. Das kann ich mir persönlich im sehr katholisch geprägten Frankreich zwar weniger vorstellen, doch kann ich es nicht ausschließen. Möglich ist aber, dass es mehr im Sinne des traditionellen französischen Laizismus verstanden werden sollte, indem eine strikte Trennung von Religion und Staat vorgesehen ist. Der Einfluss von Religion in der Politik wird konsequent abgelehnt, und so auch durch die Karikatur. Das Bild bleibt zweideutig, weshalb es so polarisiert. In diesem Moment, als ich es mir angeschaut habe, überlegte auch ich, ob ich es nicht zu extrem finde. Letztendlich ist es aber das womöglich genau das Ziel gewesen, warum sich die Redaktion für diese Zeichnung als

„Wie erkläre ich es meinem Kind?“

Titelbild entschied. Sie steht mit ihrer Satire für Meinungs- und Informationsfreiheit ein, welche nicht der Angst vor terroristischen Drohungen weicht.

Genau diesen Eindruck hatte ich auch beim Lesen der Zeitung. Die Karikaturen sind wundervoll sarkastisch und beschreiben die Absurdität vom religiösen Fanatismus: „Wie erkläre ich es meinem Kind?“ – heißt ein Comic, in dem der Sohn die Mutter fragt, ob er nicht mit den Terroristen spielen dürfe. Als die Mama es ihm versucht auszureden und meint, dass die Polizisten vielleicht etwas moderater wären, ist er enttäuscht und argumentiert damit, dass die Terroristen jedoch diese tollen Bomben hätten.
Dem scheinen Texte mit ernsthaften Stellungnahmen entgegen zu stehen. Die Redaktion schreibt aus der Sicht, wie sie das Attentat erlebt hat. Man durchlebt es durch die konkrete Darstellung gefühlt noch einmal, das makabere an der Situation. Zum einen die Absurdität, dass zwar vor allen Dingen Charlie Hebdo getötet werden sollte, aber die Willkürlichkeit des Terrorismus dazu geführt hat, dass auch andere sterben mussten, einfach weil sie da waren. Zum anderen die penible Vorbereitung der beiden Selbstmordattentäter, in dem sie die Redakteure unter anderem mit Kosenamen ansprechen konnten und ihre alltäglichen Abläufe kannten. So konnten sie eine persönliche Ebene suchen und zu Beginn den Eindruck erwecken, sie kennen die Charlie Hebdo Mitglieder. Nur so war es möglich, dass sie einer Journalistin nah genug kamen, um sie dann unter Druck zu setzen und mit einer Waffe zu drohen, den Pin als Zugang zur Redaktion zu verraten.
Die Sonderausgabe ist ein mutiges Zeichen, sich dieser Angst zu stellen. Nicht nur die Texte, sondern auch die satirischen Zeichnungen haben einen wesentlich ernsthaften Kern, der sich wie ein roter faden durch die Zeitung zieht.
Doch andererseits bleibt sie in unseren Köpfen, die Angst, indem sie stetig wieder aktiviert wird, nicht zuletzt jetzt in Istanbul.
Überschrift: Und wie verbringen Sie den 07. Januar?
Auch ich frage mich ehrlich, wann es in Deutschland der Fall sein wird. Wiegen wir uns einerseits zu sehr in Sicherheit? Haben wir andererseits überhaupt eine andere Wahl, als ruhig uns Leben weiterzuleben? Denn auch ein erzwungenes, übertriebenes Bestreben nach Sicherheit und Überwachung ist nicht die Lösung – im Gegenteil: Diejenigen, die angreifen und im Sinne der Religion und Gott töten wollen, finden ihre Wege. Das zeigte auch das erneute Attentat im November in Paris. Sicherheitsgesetze scheinen nur einmal mehr ein Willkommenstürchen für Fanatisten, die es zu brechen gilt. Sie kennen keine Grenzen.
Genau aus diesem Grunde bleibt es aber wichtig, nicht zu vergessen. Zwar gibt es die Sonderausgabe nur in französischer Sprache, doch die Karikaturen sprechen für sich. Wer also mit dem Gedanken spielt und die Möglichkeit hat, dem empfehle ich, sich die Zeitung zu besorgen. Nachdem de erste Auflage bereits in Deutschland ausverkauft sein soll, so ist doch eine zweite geplant. Also schaut fleißig bei eurem Zeitungshändler des Vertrauens nach, der auch internationale Ausgaben anbietet.  #jesuischarlie, #jerestecharlie,
(Ich bin Charlie, ich bleibe Charlie)
Verwendete Quellen und weiterführende Links:
Charlie Hebdo, Numéro Spécial. 1 An Après. L’Assisin Court Toujours Nr.: 1224/31

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