Stadt, Land, Poesie: „Zone“ von John Sauter – eine Lyrikbesprechung

Mal etwas über den Tellerrand schauen und wieder genreübergreifender lesen: Das dachte ich mir, als ich für unseren Jahresschwerpunkt auf dem Blog „Unabhängige Verlage“ die Neuerscheinungen des Independentverlags Voland & Quist durchging und mir dieser Lyrikband „in die Hände fiel“.

Zumal mich die Inhaltsangabe unmittelbar ansprach: „John Sauter erzählt von Städten und Landschaften, die ins Vergessene driften. Er tigert über Abraumhalden, Deponien, den Schrott und Müll einer Zivilisation, die nichts mehr wissen will von ihren angefangenen, abgebrochenen Provinzen. Doch auch die können Heimat sein. Denn es gibt hier nicht nur Tristesse, Gewalt und Sprachlosigkeit – sondern auch Liebe, Hoffnung und eine befremdliche Schönheit […].“

Vor allem die Frage nach Heimat zieht sich meines Erachtens wie ein roter Faden durch den schmalen Lyrikband, der durch die Diversität an Heimatorten und der unterschiedlichen Form von Suche nach Herkunft und Identität selbst vielschichtig ist, und damit alles andere als schmallippig bezeichnet werden darf.

„Zone“ von John Sauter, Voland & Quist Verlag

Eine Auswahl an Gedichten

John Sauter reist mit uns auf das Land, zur scheinbaren Peripherie der Welt, die verlassen scheint, aber trotzdem Heimat sein kann:

[…] Das Land am Horizont
Riecht nach Heimat
Doch auch das Land hat eine Nase
Erkennt es mich?
Weiß noch von mir?
Weiß das Land denn, wer ich war?
Ein gutes Kind
Träumend im Nachmittag
Oder denkt es nur an unsere schwere Zeit
An offene Rechnung
Alte Zechen
Weiß vielleicht auch gar nichts mehr
Sieht mich als Fremden
Sieht mich als leer
Dieses Land

An der Haltestelle
Neben den Blocks
Roch es nach Meer
Doch nicht einmal
Ein Schwimmbad
Gibt es
Hier
Woher
Fragst du
Ich weiß es nicht
Und wünsche uns
Niemals hier fort

Sauter ergründet auch die Stadt als Heimatort, die einerseits oft als Puls des Lebens wahrgenommen wird, aber gleichzeitig genauso einsam sein kann. Und dennoch ist sie für viele Heimat.

Ich habe kein Zuhause
Schlafe im Zug
Ziehe den Kopf ein im Bus
Blicke aus dem Flugzeug
Höre den Bettlern unter den Brücken zu
Trinke mitgebrachten Schnaps in den Lobbys
Stopfe Pullover in den Trockner
Im Waschsalon
Daneben das Kummerhaus
Im roten Licht
Aus fleckigen Mauern gebaut
Ist diese einsame Stadt
Hinter den Lippen hab
Ich ein Lied gedacht […]

Der Autor scheint auch seine eigene Heimat ergründen zu wollen, indem er uns mit auf eine Reise in seine Kindheitserinnerungen mitnimmt zu einem Geburtsort, der so in der damaligen Form wohl nicht mehr existiert. So erschien mir zumindest der Eindruck beim Lesen und auch die Autorbiographie verrät, dass John Sauter 1984 in Sachsen geboren wurde, seine „Herkunft“ ist daher ein Land, was nicht mehr existiert, die DDR.

Als Kind
[…] Saß ich auf der Kante
Über offne Berkwerke
Strömt die Kohle
In Wirbeln auf
Lufte wie Zimt
Ein Wüstenplanet
Auf dem die Menschen
Die Dörfer leerzogen
Wie einen Vorhang
Rissen sie
Das Leben mit
Aßen Marmeladenbrote
Klopften die Karten
Tranken Schnaps und gaben
Malzkaffee den Kindern
Eben woanders

Auch wenn er mit Zone wahrscheinlich mehr ein abstraktes Gebilde – den Herkunftsort allgemein – meint, so hatte ich auch manchmal das Gefühl, dass Sauter auf den geschichtlichen Begriff „die Zone“ Bezug nimmt, so wie die DDR früher in der BRD genannt wurde. Heutzutage gilt es vor allem im Osten des Landes mehr als abfälliger Begriff, weshalb ich mir nicht sicher bin, ob meine Interpretation wirklich stimmen kann. Aber ich hatte den Eindruck, dass der Autor bewusst mit dieser Ambivalenz spielen könnte, als dass es wirklich eine abgeschottete, unergründliche Zone war und er einen Bezug dazu sucht, in dem er seinen Gefühlen nachspürt und seine Kindheitserinnerungen zu ergründen versucht und damit auch seine Identität ausfindig machen möchte.

Ins Gesicht haut dir die Zone
in Bereichen ohne Kameras
Springmänner, Stadienbrüller, Mobgestalten
Die eben nicht nur friedlich bolzplatzgrasen
Mach dich klein
Mach dich schweigend […]
Heimat zeigt, dass sie dich kennt
Weiß wer du bist, du grüßt zurück
Besser du verschwindest jetzt
Bevor sie deine Fährte wittert

Mal verwirrend, mal verworren, aber auch mitreißend:
Poesie von John Sauter

Gesamteindruck

Zwar schreibe ich selbst auch gerne mal Gedichte, aber hobbymäßig. Zwar lese ich auch gerne ab und zu Poesie, aber dennoch musste ich mich anfangs an den für mich beim Lesen nicht allzu gewohnten lyrischen Schreibstil gewöhnen. Nicht alle Gedichte verstand ich auf Anhieb: Manche Gedankensprünge waren so abrupt, dass ich die Zusammenhänge nicht gleich immer nachvollziehen konnte. „Meine Gedichte sind zerrissene Landkarten im Kopf“. Als der Lyriker diesen Vers in einem Gedicht erwähnt, beginne ich es aber spätestens zu verstehen. Es soll gar nicht immer unbedingt mit einander zusammenhängen und für den Leser vollständig nachvollziehbar sein.

Insgesamt war ich von der Poesie des Autors, von seiner Kreativität und auch der Tiefe der Verse beeindruckt. Nach einer ersten Eingewöhnungsphase war ich also eingetaucht in die Welt von Sauters Lyrik. Häufig konnte ich mich mit den diffusen Gefühlen des Autors, die er versucht in Poetik zu hüllen, auch identifizieren: Persönlich bin in der Stadt aufgewachsen, wohne nun aber mit Hamburg in einer Millionenstadt und empfinde meine Großstadt im Osten bei Besuchen offen gestanden auch manchmal als Peripherie. Und das meine ich nicht unbedingt böse – ich bin gerne in meiner Heimatstadt – es kommt sicher vielmehr durch den distanzierteren Blickwinkel. Aber so konnte ich mich in nicht wenige Empfindungen einfühlen, auch wenn es darum geht, an eine Kindheit zu denken, die von der Wende geprägt ist. Ich habe den Umbruch der Zeit zwar damals nur kaum wahrgenommen (immerhin war ich noch einmal vier Jahre jünger als der Autor), dennoch fühlte ich mich häufiger im gleichen Boot, aus der gleichen „Zone“.

Fazit

Man muss sich auf den Lyrikstil und auch manchmal auf die wirren, verworrenen Gedankengänge des Autors einlassen. Wenn man dies allerdings zulässt und nicht allzu sehr nach Zusammenhängen lechzt, dann lesen sich die Gedichte locker leicht und laden zum Träumen ein, zum Träumen in die eigene Heimat, in Kindheitserinnerungen. Vielleicht findet man damit auch eine Antwort auf die eigenen Fragen nach Herkunft und Identität. Oder aber man lässt sich einfach von dem Ideenreichtum und der harmonischen Rhythmik von John Sauter mitnehmen, ohne großartig nachzudenken. Auch schön!

Infos zum Verlag Voland & Quist

Voland & Quist wurde 2004 als Independent-Verlag gegründet. Verlagsstationen befinden sich in Berlin, Dresden und Leipzig. Damit ist Voland & Quist einer der wenigen Verlage, die in Ostdeutschland situiert sind. Zu Beginn veröffentlichte der Verlag vor allem Live-Literatur, Bücher, denen CDs und Videos beigelegt wurden. Der Verlag steht für zeitgemäße, urbane Literatur. Er veröffentlicht hauptsächlich junge Literatur, Romane und Erzählungen von vor allem auch osteuropäischen Autoren sowie Kinderbücher. Auf der Bühne lesen für Voland & Quist u. a. Marc-Uwe Kling, Sarah Bosetti und Kirsten Fuchs. Die Reihe ›Sonar‹ bereichert die deutsche Literaturlandschaft mit Erstübersetzungen junger Schriftsteller aus Ost-, Süd- und Mitteleuropa. Im Imprint ‚Edition Azur‘ wird Lyrik, wie der Band von John Sauter, veröffentlicht. In der Spoken-Word-Lyrik (also eine Form der darstellenden Kunst, in der lyrische Texte vor einem Publikum vorgetragen werden) ist der Verlag durch einige der populärsten deutschen Dichter vertreten – genannt sei Nora Gomringer, Gewinnerin des Bachmannpreises 2015.

2007 wurde der Verlag mit dem Preis der »Hanna Johannes Arras Stiftung zur Förderung von Kunst und Kultur in Dresden« ausgezeichnet, 2010 mit dem Kurt-Wolff-Förderpreis. 2019 und 2020 war er unter den Preisträger·innen des Deutschen Verlagspreises. »In der Reihe ›Sonar‹ veröffentlicht Voland & Quist hierzulande noch unentdeckte Literatur aus Osteuropa. Wer sich jenseits von Vorurteil, Erklärungsroutine und Nachrichtenbetrieb eine Bild machen will, findet hier Aufregendes.« Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung »Unbedingt erforderlich: Leidenschaft, Fleiß und Ideen. […] Inzwischen prägen sie ein eigenes Genre: Spoken-Word-Lyrik, Live-Literatur.« Andreas Wenderoth, brand eins Wissen

Diesen Zitaten haben wir nichts hinzuzufügen, außer: Hoffentlich ist Spoke-Word-Lyrik und Literatur auf den Live-Bühnen bald wieder möglich!

Zur Website des Verlags Voland & Quist und zur Website des Imprints Edition Azur

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