Im Dezember 2018 räumte der „Spiegel“ in einer Pressemitteilung persönlich einen Skandal in den eigenen Reihen ein. Nun wurde es öffentlich bekannt, dass einer der erfolgreichsten und vermeintlich besten Journalisten, Claas Relotius, Reportagen systematisch fälschte und ein Qualitätsmedium wie den Spiegel erheblich und folgenreich täuschen konnte. Er gewann zudem renommierte Preise der Branche, unter anderem 2018 zum vierten Mal den deutschen Reporterpreis. Er täuschte die gesamte Branche.
Nun, zum Glück, sollte Juan Moreno, Autor des Buches „Tausend Zeilen Lüge“, vom Branchenmagazin „medium magazin“ mit dem Preis des Journalisten des Jahres 2019 ausgezeichnet werden und das meiner Meinung nach ist mehr als verdient: Er sorgte mit seiner Ausdauer und Hartnäckigkeit dafür, dass einer der größten Fälschungsskandale der Moderne aufgedeckt und im Anschluss aus der Krise heraus neue Qualitätsstandards im Journalismus gesetzt wurden. Glück im Unglück, er ließ sich nicht täuschen.
Das Sachbuch über die Spiegel-Affäre im Fall Relotius erschien im Rowohlt-Verlag am 17.09.2019
Was bedeutet es, ein Sachbuch über jemanden zu schreiben, der seine Texte systematisch fälschte und Lügen verbreitete? Zumindest stellt es den Qualitätsjournalismus auf die Probe, müssen doch alle Fakten und Gegebenheiten einwandfrei recherchiert und die Quellen dazu hinreichend geprüft sein, dachte ich zumindest mehrmals beim Lesen – Also genau diese Prinzipien, die als Aushängeschild des Spiegels galten und die durch den Fälschungsskandal als Lücken des Systems aufgezeigt wurden. Moreno aber hält das Aushängeschild wieder hoch.
Inhalt
Alles beginnt mit einer Geschäftsreise nach Mexiko des freiberuflichen Journalisten Juan Moreno, der vor Ort kurzfristig vom renommierten Gesellschaftressort des Spiegels angefunkt wird. Er solle eine Reportage in Zusammenarbeit mit Spitzenreporter Claas Relotius schreiben. Dabei sollte er die Karawane von Geflüchteten begleiten, die zu dem Zeitpunkt Richtung Amerika wandert und bei der sich Anhänger voraussichtlich Schleppern anvertrauen werden. Claas Relotius hingegen soll auf „der anderen Seite“, an der Grenze der USA eine patriotische Bürgerwehr infiltrieren, also in Prinzip ein unmögliches Unterfangen möglich machen. Denn eines ist den Leitern des Ressorts gewiss: Dem Kollegen Claas gelingt es letztendlich immer mit Geduld und Feinfühligkeit, das Unmögliche zu erreichen und zudem präzise, emotionale Reportagen direkt am Geschehen zu führen.
Selbst Juan Moreno ist nach erster Skepsis überwältigt, gewinnt Respekt und muss sich wohl eingestehen, dass sein junger Kollege als Ausnahmetalent auf der Überholspur landet. Bald soll letzterer nach Umstrukturierungen sogar eine Ressortleitung übernehmen. Moreno hingegen wird weiterhin „nur“ ein freier Journalist bleiben. Deshalb muss er augenscheinlich auch akzeptieren, dass sein Kollege „zusammenschreiben“ darf, also im Journalistenjargon gemeint, die Verantwortung für den Text und damit auch die Leitung der Gruppe übernehmen zu dürfen. Als Moreno jedoch seinen Teil mit etlichen Korrektur- und Regievorschlägen von Relotius zurückgeschickt bekommt, wird er wütend: Dies stellt für ihn keine Art und Weise dar, Qualitätsjournalismus zu betreiben, indem Fakten an den Text angepasst, ausgeschmückt oder sich gar ein roter Faden zusammengereimt wird. Der Journalist beginnt zu recherchieren und stößt auf einige Ungereimtheiten. Als er beim Spiegel allerdings darauf aufmerksam machen möchte, stößt er auf erhebliche Widerstände. Die zu dem Zeitpunkt aktuelle Ressortleitung wie Matthias Geyer und Ulrich Fichtner ignorieren Juan Morenos Kritik, kaum einer will ihm glauben, man interpretiert sogar Neid und Missgunst hinein. Viele vertrauen dem Starreporter Relotius hingegen bedingungslos:
„Als kurz vor Ende des Skandals, kurz bevor Claas Relotius alles zugab, das ganze Gebilde einzustürzen drohte, wurde der Dokumentar, der die meisten Relotius-Reportagen überprüft hatte, von Ulrich Fichtner gefragt, wem er eher glauben würde – Juan Moreno oder Claas Relotius. Er sagte: ‚Für Claas lege ich meine Hand ins Feuer‘.“ (S. 155)
Moreno beißt sich trotzt aller Widerstände fest, sein beklemmendes Gefühl und Misstrauen lassen ihn nicht los. Und es sollen weitere Ungereimtheiten, nahezu eklatante Fehler und Lügen von seinem Kollegen folgen. Jedoch bedeutet es auch ein Rennen um die Zeit, ein Bangen um seine Anstellung als freier Journalist, vielleicht sogar ein Bangen um seinen einwandfreien Ruf.
Kritik
Als ich damals den besagten Spiegel-Artikel las, war ich selbst erschüttert. In meinem Bereich der Pressearbeit stehe ich täglich in Kontakt mit Journalisten. Die Artikel und Reportagen des Spiegels gelten als detailliert, spitzfindig und sehr gut recherchiert. Vor allem dachte ich jedoch unmittelbar an den möglichen Druck in der Medienbranche. Insbesondere der Printjournalismus kämpft in der heutigen Zeit und sicher wirkt sich diese Bedingung auch auf die Mitarbeiter aus. Man sei gewillt zu funktionieren und überwältigende Reportagen zu schreiben. Das Ausmaß konnte ich mir jedoch natürlich nicht vorstellen, so auch die Spiegel-Leitung nicht. Claas Relotius bediente ihre Sehnsüchte, dass der Journalismus noch an Idealen festhalten kann: Er war allerdings ein Hochstapler und baute sich ein unglaubliches Gerüst von Lügen auf, das lange Zeit zu halten schien, nahezu genial war. Sein stetiges Ziel war es damit hochrangige Preise zu gewinnen. Und nur außergewöhnliche Reportagen konnten das erreichen, die mühevollen Reportereinsatz voraussetzten.
Moreno sollte 2018 letztendlich das Kartenhaus zu Fall bringen – wie er selbst in der Talkshow mit Markus Lanz feststellte, liest sich sein Buch über den Fälschungsskandal wie ein filmreifer Krimi. Die damit verbundenen Herausforderungen und Fallstricke, denen er sich konfrontiert sah, um seinen Kollegen zu überführen, beschreibt er sehr eindringlich und anschaulich. Er hatte Existenzängste, da er seine Kündigung schon geschrieben sah. Die Mauern im Spiegel waren fest und seine Vorgesetzten stur. Es war immerhin schwer vorstellbar, dass der Spiegel als Qualitätsblatt durch einen Hochstapler getäuscht werden konnte. Man hätte sich eklatante Fehler eingestehen sowie akzeptieren müssen, in eine große Krise des Journalismus zu stürzen.
Juan Moreno beschreibt aber nicht nur den Skandal auf eine unglaublich authentische und anschauliche Art und Weise, sondern geht auch tiefer. Er analysiert die Folgen des Falls für den Journalismus und aufgrund welcher Ursachen es überhaupt so weit kommen konnte. Ferner geht er auf die Bedeutung der Kategorie Reportage ein und weshalb vermutlich gerade diese so anfällig für Fälschungen sein könnte.
Um allerdings noch einen Kritikpunkt zu nennen, hätte ich mir zusätzlich Quellenangaben im Text gewünscht. Immerhin geht es um einen sensiblen Fälschungsskandal, in dem Quellen missachtet bzw. Fakten nicht ausreichend geprüft wurden. Ein Bericht darüber würde durch belegbare Quellen stichhaltiger, noch glaubwürdiger, sein Wahrheitsgehalt noch mehr untermauert werden.
Das Buch nahm mich zum einen in seinen Bann. Es ließ mich hinterfragen und grundlegend nachdenken. Zum anderen bot es gleichzeitig einen klaren Überblick über die Branche „Journalismus“. Es liest sich wie ein Roman, ist aber gleichzeitig ein aufklärerisches und umfangreich recherchiertes Sachbuch.
Fazit
Juan Moreno gelang es durch seinen Glauben an die ethischen Grundsätze des Qualitätsjournalismus am Fall Relotius dranzubleiben. Er erreichte außerdem, dass die renommiertesten Blätter Deutschlands (wenn nicht sogar weltweit) ihre Regularien von Grund auf überarbeiteten und vor allem der Spiegel selbst sich grundlegend neu aufstellte. Der Spiegel versuchte den Fall nicht zu vertuschen, sondern im Gegenteil, er ging offen damit um und berichtet selbst stetig darüber. Matthias Geyer und Ulrich Fichtner gaben ihre Leitungsfunktionen auf und wurden auch nicht wie ursprünglich geplant zum Chefredakteur und Blattmacher befördert. Das Magazin bewies, dass weiterhin Prinzipien im Sinne des journalistischen Ethos Priorität bleiben. Es kam zu Grundsatzdiskussionen innerhalb der gesamten Branche.
Dem Autor ist insgesamt ein überzeugender Abriss über den wohl größten journalistischen Skandal der Moderne gelungen und damit auch ein Bericht über die Realität, die oft mehr wie ein Krimi zu sein scheint, als man glauben möchte. Es ist ein Buch, das ich jedem nahelege, welcher selbst Journalist ist bzw. selbst schreibt und dabei den Anspruch erhebt, qualitätsjournalistischen Prinzipien zu folgen sowie auch denjenigen, die manchmal den Glauben an wahren Journalismus verlieren. Denn das müssen sie nicht.
Der Spiegel: Dossier mit Artikel über den Fall Relotius
NDR: Ein Jahr nach dem Fall Relotius (12/2019)
Deutschlandradio Kultur: Auszeichnung für Juan Moreno als Journalist des Jahres 2019 (12/2019)