Wirre Gedanken und Erinnerungen. Kaum eine Handlungskurve. Und doch ein roter Faden: Das sind die wesentlichen Keywords, die mir nach meiner Lektüre zu „1000 Serpentinen Angst“ in den Kopf kommen. Es ist ein Buch, das auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand und mir in meiner Social-Media-Timeline mehrfach mit Lobesgesängen angepriesen wurde – ein Buch, was mich zum einen fasziniert und zum anderen dennoch etwas ratlos zurücklässt.
Inhalt
Der Roman beginnt mit einem Dialog zwischen der namenlosen Protagonistin und einem undefinierbaren Gegenspieler. Dabei steht sie an einem Süßigkeitenautomaten und versucht einen Schokoriegel herauszubekommen.
Die junge, schwarze Frau wächst im Osten Deutschlands auf und erlebt die Umbrüche der Nachwendezeit aktiv mit. Sie fühlt sich vor allem nie so recht zu Hause. Rassismus und Ausgrenzung sind für sie bekannte Alltagsthemen. Auch später noch sucht sie nach sich selbst und versucht zu verstehen, warum sie Angststörungen hat. Warum diese Panikattacken regelmäßig wiederkehren und was das mit ihr und ihrer Familie und Vergangenheit zu tun hat. Immerhin musste sie miterleben, wie ihr Zwillingsbruder mit 19-Jahren vor den Zug springt, als sie gerade unterwegs zu einem Bahnhofsautomaten ist.
Da sind all diese Gedanken über die Vergangenheit und Gegenwart. Sie hat eine deutsche Mutter, eine Punkerin in der DDR, die sowohl privat als auch in der Öffentlichkeit nicht die Freiheiten ausleben konnte, die sie sich gewünscht hätte. Und ihr angolischer Vater hat sie und ihren Zwillingsbruder früh verlassen, um in sein Heimatland zurückzukehren. Ihre Großmutter mütterlicherseits war linientreu in der DDR. Aber auch Gedanken über Kim beschäftigen die Protagonistin, ihre vietnamesische Exfreundin, zu der sie sich noch immer hingezogen fühlt. Es gibt viele Baustellen…
Kritik
Es ist Olivia Wenzels Debütroman und greift Thematiken wie Verlust, Heimatsuche und Selbstfindung, aber auch Diversity und die Rassismusproblematik auf, vielversprechende, große Themen. Sonst schreibt die Autorin Prosa und ist musikalisch unterwegs. Das merkt man, denn der Schreibstil ist melodisch, poetisch. Zu Beginn hat er mich mitgerissen. Der undefinierbare Gegenspieler scheint das Innere der Protagonistin zu sein, ihre Gedanken, ihre Erinnerungen. Mal ist die Ich-Erzählerin die Fragende, mal die Gefragte. Sie scheint zerrissen, hin und hergerissen. Die Gedanken sind wirr und so fehlt auch ihrem inneren Ich Klarheit:
„Wo bist du jetzt?
Es ist Mittwochvormittag, die Sonne scheint, meine Mutter und ich gehen in einem kleinen Waldsee baden. Für Ende Mai ist es schon ziemlich warm, das Wasser umrandet von Laub- und Nadelbäumen, deren Namen ich nicht kenne. Außerdem zu meinen Füßen, sandige Wege, auf denen vereinzelt Tannenzapfen liegen, Coladosen, Äste, viel Schatten, wenig Licht und ein Flipflop.
Es ist erstaunlich, dass überall auf der Welt Menschen dazu neigen, immer genau einen Schuh zu verlieren. „
Die Gedankenfetzen waren zwar anfangs verwirrend, aber auch mal ein anderer, kreativer Ansatz. Vor allem in Bezug auf Angststörungen: Was geht in einer Person in diesen Momenten vor? Das Buch ist wie seine Hauptperson: speziell, individuell – beide fallen aus einem Raster. Es gibt diverse Zeit- und Ortssprünge, unvermittelt. Nur die Gedanken bleiben wie ein roter Faden, genauso wie der Süßigkeitenautomat am Bahnsteig, der als Begleitbild immer wieder auftaucht. Die Ich-Erzählerin vergleicht ihr Herz mit dem Automaten: „Mein Herz ist ein Automat aus Blech. Dieser Automat steht an irgendeinem Bahnsteig in irgendeiner Stadt.“ Das Stilmittel könnte gleichzeitig die Vergangenheit der Protagonistin verkörpern, da es Bezug zur Situation nimmt, als der Bruder der Protagonistin stirbt. Vermutlich versucht letztere die Vergangenheit so zu bewältigen, die Erinnerungen, die in ihrem Herzen hängen geblieben sind wie aus Blei.
Letztendlich musste ich aber feststellen, dass diese unkonventionelle Herangehensweise ohne Handlungsverlauf und ohne Spannungsbogen mich mit der Zeit störte und auch etwas verstörte. So kreativ und poetisch der Stil der Autorin sein mag, so war er mir etwas zu unkonventionell. Denn am Ende fehlten mir fast die Beweggründe, das Buch zu beenden. Ich wusste, dass nicht mehr viel passieren würde. Aber ich wollte und habe es beendet, denn nichtsdestotrotz ist es ein besonderes Buch.
Fazit
Und so lässt mich der Roman wie eingangs schon geteastert etwas unschlüssig zurück. Der Schreibstil ist sehr bildhaft, modern und einzigartig. Eine Erzählweise ohne vorhandenem Plot erscheint mir allerdings ein Stück weit zu modern. Ja, es ist ein Buch, das preisverdächtig ist (auch wenn es letztendlich den Deutschen Buchpreis nicht gewonnen hat. Den Preisträger wird Aline bald lesen). Es erinnert mich etwas an Archipel von Inger-Maria Mahlke, welches 2018 den Deutschen Buchpreis gewann, wegen einer rückwärtsgewandten Erzählweise. Beide Bücher punkten mit Originalität, sind aber auch jeweils nicht leicht zu konsumieren und damit nicht jedermanns Sache.
Ich habe mir von „1000 Serpentinen Angst“ mehr erwartet. Und dennoch kann ich nachvollziehen, weshalb viele den Roman loben und feiern. Das Buch polarisiert. Und genau deshalb solltet ihr euch letztendlich einfach selbst mal ein Bild machen!
Ein Gedanke zu “Wirre Gedanken: „1000 Serpentinen Angst“ von Olivia Wenzel, eine Rezension”