Ein neuer, sehr bewegender Roman von Sarah Kuttner, erschienen im März 2019 bei S.Fischer-Verlage
„Die Welt bleibt nicht für eine beschissene Sekunde stehen. Sie zögert noch nicht einmal.“ (S. 105) Dieses Zitat beschreibt für mich den Kern des Buches: Was passiert, wenn einen plötzlich ein Ereignis aus der Bahn wirft und man am liebsten die Zeit zurückdrehen oder zumindest anhalten wollen würde? Was passiert, wenn plötzlich ein Mensch stirbt, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte? Sarah Kuttner beschäftigt sich in ihrem neuen Roman mit Trauer und Verlust, aber auch mit der Suche nach einem neuen Zuhause und nach einer Familie, und zwar in Form von Patchwork.
Inhalt
Lena wohnt mit Kurt zusammen und das gleich zwei Mal. Ihr Freund hat bereits einen Sohn, der genauso wie er selbst heißt: Kurt. Mit dem älteren Kurt hat sich Lena ein Haus in Brandenburg gekauft, damit sie näher bei dem kleinen Kurt sein können. Der Junge geht bereits in die Schule und pendelt wöchentlich zwischen seinen Eltern hin und her. Lena liebt beide Kurts, dennoch fällt es ihr manchmal schwer, ihre eigene Rolle in der Familie und ihre Beziehung zu dem Kind genau zu definieren. Sie ist sich unsicher, wie viel sie Verantwortung übernehmen darf und muss, wie viel sie den Jungen lieben darf und muss.“Dieses uns im Zusammenhang mit Kurt Junior geht mir einfach noch nicht so gut von der Hand. […] Also von meiner Hand. Ich bin ja mit zwei Kurts zusammengezogen. Einem ganzen Kurt und einem Halbtags-Kurt. Halbmonats-Kurt um genau zu sein“ (S. 45). Zudem ist sie als Urberlinerin noch etwas überfordert mit dem Landleben im rustikalen Brandenburg…
Die Suche nach der Familie nimmt Irrwege, als der kleine Kurt einen Unfall hat und stirbt, einfach so ohne Vorwarnung. Der große Kurt zieht sich immer mehr zurück und Lena weiß genauso wenig, wie sie mit dem Verlust umgehen soll: Ist sie doch weder die Mutter, noch ein Familienmitglied oder eine einfache Freundin für den kleinen Kurt gewesen.
Kritik
Patchwork-Familien sind heutzutage nichts wirklich Außergewöhnliches mehr. Dennoch gibt es kein genaues Regelwerk, wie man sich in Ausnahmesituationen in dieser besonderen Familienkonstellation verhalten sollte. Besonders an dem Buch finde ich, dass es aus der Sicht der Freundin geschrieben ist, eine Person, die zwar eigentlich zur Familie gehört, die aber ihre Funktion innerhalb dieser nicht genau geklärt sieht. Entsprechend weiß sie nicht genau, wie eng ihre Beziehung zu dem Jungen sein darf und genauso wenig, wie sie um ihn trauern darf, als er stirbt.
Dieses Buch hat mich insofern berührt, als dass ich die Unsicherheiten und Herausforderungen, mit denen Lena konfrontiert wurde, zum Teil gut nachempfinden konnte. Denn ich selbst war schon einmal in einer Beziehung, in der es bereits ein Kind gab. Die eigene Rolle ist etwas zwischen Nicht-die-Mutter zu sein, als Partner des Elternteils aber auch Verantwortung für das Kind zu tragen. Manchmal muss man streng sein, denn Kinder testen ihre Grenzen aus. Gleichzeitig ist man diejenige, die einfach auch nur Spaß mit dem Kind haben kann. Die Erziehung liegt vordergründig bei den Eltern.
Ein Todesfall ist eine Grenzerfahrung und verschärft diese besondere, fragile Familienkonstellation. In solch einer Ausnahmesituation verhalten sich auch die Betroffenen außergewöhnlich. Dahingehend hätte ich mir etwas mehr Reibung in der Geschichte gewünscht, da ich glaube, dass in der Realität die Betroffenen noch mehr an ihre Grenzen geraten und sich sowie ihre Beziehung zu anderen hinterfragen. Mit Lena als Person kann ich mich zwar identifizieren, da sie nicht ganz so schrullig und verkorkst scheint wie sonst häufig die Protagonistinnen in Sarah Kuttners Romanen (beispielsweise verglichen mit der Hauptperson in „180 Grad Meer“), aber manchmal hätte ich mir bei Lena etwas mehr Ecken und Kanten gewünscht. Sie versucht nie so recht auszubrechen.
Von diesen kleinen „Schwächen“ des Buches jedoch einmal abgesehen, hat mich Sarah Kuttner wieder mehr als überzeugt. Sie befasst sich mit schweren Themen und es gelingt ihr, diesen mit Leichtigkeit zu begegnen und einen mitzunehmen.
Fazit
Nicht ohne Grund gehört Sarah Kuttner zu meinen liebsten Autorinnen. Zum einen hat sie einen modern und lockeren Sprachstil, der durch gedankenvolle Wortspiele mitunter poetisch wird. Zum anderen beweist sie, dass die schweren Themen oftmals Alltag werden können. Jeder kann mit solchen im Roman thematisierten Herausforderungen konfrontiert werden. „Kurt“ ist emotional, berührt und bringt brandenburgischen Kleinstadt-Charme mit. Es begegnet dem Schwerfälligem ganz ohne Schwerfälligkeit.
Weiterführende Links
Sarah Kuttner bei „Gottschalk liest?“
Ein Halbkreis voller Meer – 180 Grad Meer von Sarah Kuttner, eine Rezension
Ein Gedanke zu “Zerflicktes Patchwork: Rezension zu „Kurt“ von Sarah Kuttner”