Da wir dieses Jahr vermehrt zu Backlistbüchern greifen möchten, also Geschichten, die mindestens ein Jahr alt sind, haben wir neulich im Rahmen einer Lesechallenge auf Instagram jeweils drei Bücher von unserem Lesestapel gezeigt. Wir haben die Community auswählen lassen, welches davon gelesen werden soll. Bei mir wurde es Die Vegetarierin von Han Kang, die 2024 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Als eine von bisher 18 Frauen wurde die Südkoreanerin, die bereits zuvor namhafte Preise wie den Man Booker Prize erhalten hatte, ausgezeichnet mit der Begründung, der Preis würde ihr „für ihre intensive poetische Prosa, die historische Traumata konfrontiert und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens offenlegt“ (1) verliehen.
Bereits vor der Auszeichnung im letzten Jahr hatte ich von Han Kang gehört, aber noch keines ihrer erschienenen Werke gelesen. Dabei gilt Han Kang als eine der „wichtigsten literarischen Stimmen Koreas“, die „Einsamkeit, Trauer, Gewalt und Traumata zu wiederkehrenden Themen ihrer Literatur“ (2) macht. Alleine diese Begründung des Nobelpreiskomitees verspricht viel.
Für mich waren die vielen begeisterten Stimmen zu ihren Büchern nach der Bekanntgabe des Nobelpreises, Gespräche mit Lesefreunden, sowie dass ich in den ersten Wochen dieses Jahres Lust auf unkonventionelle Geschichten verspürt habe, ausschlaggebende Punkte, mich also mit einem ihrer Büchern genauer auseinanderzusetzen.

Die Vegetarierin von Han Kang
Erschienen im Aufbau Verlag, 2016; übersetzt von Ki-Hyang Lee
Yong-Hye lebt mit ihrem Ehemann ein gewöhnliches Leben, bis sie eines Tages beschließt, keine tierischen Produkte mehr zu essen. In einem Land wie Südkorea, mit strengen sozialen Normen, in dem Veganismus als subversiv gilt, erscheint ihre Ernährungsumstellung wie ein Affront. Von ihrem Ehemann und ihrer Familie gefragt, warum sie keine tierischen Produkte mehr essen möchte, begründet sie dies lediglich mit: „Ich hatte einen Traum.“ Die Situation in ihrer Ehe und die Verbindung zu ihrer Familie eskalieren immer weiter, bis ihr strenger, patriarchaler Vater sie zwingen möchte, ein Stück Fleisch zu essen.
In dem schmalen Büchlein zerlegt die Autorin Hang Kan in drei Teilen die Emanzipation einer Frau, ihr abwenden von einem gesellschaftlichen Normativ hin zu einem völligen Einklang mit ihrem Selbst. Dabei ist Bemerkenswert, dass der erste Teil aus der Sicht ihres Ehemanns, der zweite Teil aus der Sicht des Schwagers und der dritte Teil aus der Sicht der Schwester geschrieben ist. In keinem der drei Teile lernen wir Yong-Hye und ihre Beweggründe, sich in aller Öffentlichkeit zu entblößen oder davon zu träumen, ein Leben als Pflanze zu führen, wirklich kennen. Diejenige, die eigentlich als Protagonistin auftritt, sehen wir vielmehr als Objekt – durch die Augen von Männern und vielen anderen, nur nie so, wie sie eigentlich ist: nämlich als junge Frau, die sich den patriarchalen und strengen sozialen Normen einer Gesellschaft nicht unterwerfen möchte.
Es ist gerade das Spiel Han Kangs mit Bildern, die einfache Poesie ihrer Sprache und das deutliche Überzeichnen und Überspitzen von Begebenheiten, welches mich begeistert hat. Alleine mit welcher Sinnlichkeit und Schönheit sie schon fast pornografische Inhalte erzählt, ist faszinierend. Han Kangs Die Vegetarierin ist beileibe kein alltägliches Buch – im Gegenteil: Es lässt viel Raum für Interpretation, Diskussion und hallt lange nach. Und alle, die es in der Literatur manchmal ein bisschen abgefahrener mögen, kommen hier auf ihre Kosten.
In der Rede (3) anlässlich der Verleihung des Nobelpreises beschreibt Han Kang, wie sie bei einem Umzug eine Schuhschachtel mit alten Tagebüchern und einem selbst gebundenen Gedichtband aus ihrer Kindheit wiederentdeckt. Auf dem Cover des Gedichtbandes war die Zahl 1979 vermerkt (die Autorin wurde 1970 geboren).
Sie erzählt weiter von ihrem Werdegang als Schriftstellerin, vom Prozess des Schreibens und davon, dass sie jeden Roman mit einer Frage beginnt, auf die sie keine Antwort hat. Welche Frage stand wohl am Beginn von Die Vegetarierin?
Zum Weiterlesen:
Übrigens ist laut verschiedener Meinungen der Roman Die Vegetarierin als Einstieg gut geeignet, weshalb ich mich beim Kauf für das Buch entschieden habe. Imke Weiter vom Blog the_female_reader hat im Gegensatz zu mir schon alle Han Kang Bücher gelesen und auf Instagram eine kurze Zusammenfassung ihrer Bücher verfasst: HIER.
Der Buchblog Tintenhain beschreibt, warum „Die Vegetarierin“ ein gutes Buch für den nächsten Lesekreis sein könnte: HIER
Und auch das Literaturcafe.de findet nur begeisterte Worte für das Werk der Nobelpreisträgerin: HIER
Quellen:
(1) https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2024/summary/
(2) https://www.deutschlandfunkkultur.de/nobelpreis-literatur-2024-han-kang-100.html
(3) https://www.aufbau-verlage.de/aufbau/im-gespraech/han-kangs-nobelpreisrede