Eine Rezension zu „Archipel“ von Inger-Maria Mahlke (erschienen im Rowohlt Verlag, August 2018)
… sowie mehr zum Deutschen Buchpreis
Letzte Woche Montag, den 08. Oktober, wurde in jährlicher Tradition zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse einer der bedeutendsten Auszeichnungen der Literatur Deutschlands verliehen, der Deutsche Buchpreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. TROMMELWIRBEL: Inger Maria Mahlke für ihren Roman „Archipel“ ist die diesjährige Preisträgerin.
Damit setzte die Jury für mich besondere Zeichen: Zum einen zeigt sie, dass man nicht schon jahrelang hunderte Beststeller-Bücher geschrieben haben muss, um endlich den renommierten Preis zu gewinnen. Sondern auch junge AutorInnen haben die Chance auf die Auszeichnung. Zum anderen hält seit fünf Jahren erstmals wieder eine Frau den Deutschen Buchpreis in den Händen. Weibliche Autoren haben es häufig noch schwerer. Insgesamt gibt es weniger Autorinnen und auch Preise werden dominiert an männliche Kollegen vergeben. Dieses Mal waren aber bereits vier von sechs Nominierten der Shortlist Frauen. Die Jury bringt also frischen Wind in den Verleihungsprozess hinein.
Ich freue mich zudem für die Autorin, eine sympathische junge Frau, die bereits mit ihrem Buch „Wie ihr wollt“ 2016 auf der Shortlist stand und eine kurze, prägnante Rede bei der Preisverleihung hielt. Das Buch habe ich selbst gelesen und betrachte den Titel dafür als verdient:
Zum Inhalt des Buches:
„Es ist der 9. Juli 2015, vierzehn Uhr und zwei, drei kleinliche Minuten. In La Laguna, der alten Hauptstadt des Archipels, beträgt die Lufttemperatur 29,1 Grad. Der Himmel ist klar, wolkenlos und so hellblau, dass er auch weiß sein könnte“. Damit beginnt die Geschichte in der Gegenwart, im Jahr 2015. Familie Bernadotte, Felipe, Anne und Rosa, gehen zu einer Ausstellung anlässlich des siebzigjährigen Jubiläums zur Konferenz der Surrealisten auf Teneriffa. Die Bernadottes als Familie haben eine langjährige Tradition und gelten über Jahre hinweg als einflussreiche Familie. Jedoch muss Rosa nach ihrer Rückkehr auf die Insel nun vor Scherben der Familiengeschichte stehen. Sie sucht etwas, ohne recht zu wissen was. Dies führt sie, wenn auch widerwillig, zum Altenheim ihres Ortes La Laguna. Dort arbeitet ihr neunzigjähriger Großvater mütterlicher Seite, ein Mann ohne Privilegien und einst Gefangener der Faschisten.
Inger-Maria Mahlke erzählt die Geschichte rückwärts. Sie erzählt die Stationen eines Familienepos von der Gegenwart bis hin in die Vergangenheit zum Jahr 1929 zurück. Dabei werden im Raffer eines Jahrhunderts vielschichtig drei Familien unterschiedlichen Standes beleuchtet und anhand ihrer persönlichen Erlebnisse und Hintergründe die Kolonialgeschichte Teneriffas auf der einen Seite und die europäische Geschichte auf der anderen Seite erzählt. Das Insel-Archipel scheint hierbei die äußerste Peripherie europäischer Geschichte als ehemalige Kolonie Spaniens. Doch es ist deshalb gleichzeitig das Zentrum eines Konflikts, ein Sinnbild des stetigen Kampfes zwischen Diktatur und Demokratie. Francos Diktatur hinterließ Spuren, auch bei den Familien des Romans. Es bildet sogar den Fokus der Forschung von Felipe in der Gegenwart.
Kritik
Man wird anfangs in die Geschichte nahezu hineingeworfen, vieles scheint unklar. Die Personenkonstellationen muss man für sich langsam entflechten. Doch einige Handlungsstränge klären sich in der Vergangenheit auf, wenn man mit vergangenen Ereignissen innerhalb der Familien im Kontext der geschichtlichen Ereignisse der Insel konfrontiert wird. So sind das oben benannte Jubiläum oder die Forschung von Felipe Wirkungen in der Gegenwart. Sie werden in den Kapiteln zur Vergangenheit wieder aufgegriffen und durch die Parallelen in Zusammenhang gesetzt. Das ist das Besondere. Es zeigt wie Geschichte und Gegenwart miteinander zusammenhängen und wie historische Ereignisse Spuren im Jetzt hinterlassen.
Im Laufe des Buches muss man sich jedoch auch leider von einigen Protagonisten verabschieden, da sie in den früheren Jahren noch nicht existieren. So bleibt man in einigen Punkten bis zum Ende hin im Unklaren. Das führt dazu, dass das Buch in seiner Handlung und in Zusammenhängen nicht immer leicht durchschaubar ist. Man muss sich häufig wieder in neue Handlungsstränge hineindenken und häufiger gibt es keine Rückschlüsse auf Ereignisse und Absichten oder Lebenswege der Protagonisten in der Gegenwart beziehungsweise vorangegangenen Zeitebenen: etwas, was ich mir noch mehr gewünscht hätte. Manche der Protagonisten hätte ich gern nähe kennen gelernt und gewusst, wie es für sie weitergehen wird.
„‹Archipel› gehört zur anspruchsvollsten Literatur, die derzeit in deutscher Sprache geschrieben wird.“ (Der Tagesspiegel)
Dieser Pressestimme kann ich zustimmen. Das Buch ist sehr anspruchsvoll. Man muss ihm eine Aufwärmphase zugestehen und konzentriert lesen. Doch dann überzeugt es mit seiner besonderen Sprache, detaillierten Recherche und Vielschichtigkeit.
Fazit
Inger-Maria Mahlke gelingt es letztendlich eine Familiengeschichte einmal anders zu erzählen. Mit der rückwärts gehenden Erzählweise nimmt die Autorin uns mit an einen Urlaubsort und veranschaulicht, dass dieser so viel mehr ist: In „Archipel“ wird aufgezeigt, wie viel diese Insel im letzten Jahrhundert erlebt hat und wie sie ein Brennpunkt europäischer Geschichte, aber auch politische Spielwiese ihrer Kolonien wird. Die Autorin selbst verbindet familiäre Ursprünge mit der Insel Teneriffa. In diesem Zusammenhang würde mich weiterführend interessieren, ob und wenn ja, wie viel autobiographische Züge der Roman enthält. Vielleicht kann ich diese Frage der Autorin irgendwann persönlich stellen.
Mehr zum Deutschen Buchpreis
„Ziel des Preises ist es, über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autoren, das Lesen und das Leitmedium Buch. Verlage können sich mit ihren Titeln direkt um die Auszeichnung bewerben.“
Mit dem Deutsche Buchpreis wird jährlich seit 2005 der deutschsprachige „Roman des Jahres“ von der Stiftung Börsenverein des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet und im Rahmen der Frankfurter Buchmesse übergeben. Eine unabhängige Jury wählt vorerst eine Longlist mit 20 Titeln aus den Einreichungen der Verlage aus. Dieses Jahr gab es 165 Einreichungen, aus diesen letztendlich sechs Finalisten und zum Schluss die Preisträgerin gewählt wurde. Das Besondere an dem Preis ist, dass nicht nur der Preisträger bzw. die Preisträgerin, sondern auch die anderen Finalisten honoriert werden: Zur Auswahl standen folgende weitere fünf Shortlist-Nominierte:
María Cecilia Barbetta: Nachtleuchten, S. Fischer, August 2018
Maxim Biller: Sechs Koffer, Kiepenheuer & Witsch, September 2018
Nino Haratischwili: Die Katze und der General, Frankfurter Verlagsanstalt, August 2018
Susanne Röckel: Der Vogelgott, Jung und Jung, Februar 2018
und Stephan Thome: Gott der Barbaren, Suhrkamp, September 2018
Ähnlich wie beim Oscar ist es letztendlich allein eine Auszeichnung unter den Nominierten für den Preis zu sein und veranschaulicht, wie renommiert der Deutsche Buchpreis ist. Ich gratuliere Inger-Maria Mahlke ganz herzlich zu dieser Auszeichnung!
Vielen Dank an den Rowohlt Verlag für die Bereitstellung eines Leseexemplars!
2 Gedanken zu “Deutsche-Buchpreis-Gewinnerin 2018 – Inger-Maria Mahlke mit „Archipel“”