Die Nicht-Eindeutigkeit von Heimat – Rezension zu „Herkunft“ von Saša Stanišić

Ein autobiographischer Roman, erschienen beim Luchterhand Literaturverlag, März 2019

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Gern werden die Begriffe Heimat und Herkunft gleichgesetzt sowie als Synonym für den Geburtsort einer Person verwendet. Dabei können das Heimatgefühl und die eigene Interpretation von Herkunft unterschiedlich ausgelegt werden. Saša Stanišić veranschaulicht diese Vielfältigkeit der Begriffe in seiner autobiographischen Erzählung und nimmt uns mit auf seine lebenslange Suche nach der Antwort, was für ihn Herkunft und Heimat bedeuten könnten: Könnten diese Begriffe anstatt an den Geburtsort auch an Lieblingsplätze, Erinnerungen, Erlebnisse oder an Familie und Freunde geknüpft sein?

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„Herkunft“, eine Autobiographie

 

Inhalt

Saša Stanišić muss 1992 aus seinem Heimatort Višegrad im damaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien und jetzt im östlichen Bosnien und Herzigowina aufgrund des damals ausgebrochenen Krieges fliehen. Sein Vater ist Serbe, seine Mutter Bosniakin und Muslimin. Die Familie flieht nach Heidelberg, wo Saša aufwächst und erwachsen wird. Der liebste Aufenthaltsort von ihm und seinen Freunden nach der Schule ist eine Aral-Tankstelle.

Saša verliebt sich zum ersten Mal, lernt besser Deutsch und beginnt zu schreiben, das aber zu Beginn auf Serbokroatisch. Sein Lehrer bringt ihn dazu, auf Deutsch zu schreiben. Seine Kurzgeschichten werden in der Klasse sogar unter einem Pseudonym besprochen. Er beginnt für sich die deutsche Literatur und Lyrik sowie klassische deutsche Autoren zu entdecken. Heidelberg wird irgendwie seine neue Heimat.

Saša Stanišić darf als einziger seiner Familie in Deutschland bleiben, da er nach der Schule Deutsch als Fremdsprache und Slawistik studiert und später als Autor Arbeitet findet. Wenn er nach seiner Herkunft gefragt wird, dann variieren seine Antworten. Jedoch was seinen Ursprung betrifft, bevorzugt Saša Slowene, da man dabei weniger an Kriegsopfer denke im Vergleich zu Bosnien.

Als erwachsener Mann besucht er seine Oma in seiner Geburtsregion. Er geht so auch seinen Erinnerungen nach, die einen Teil seines Verständnisses von Heimat und Herkunft ausmachen könnten: Die Oma erkrankt an Demenz. Für sie scheinen Erinnerungen nur noch Schall und Rauch. Kaum noch etwas wirkt wie früher. Für Saša ist der Ort in seinem Geburtsland zum einen fremd, zum anderen wiederum so vertraut, als könnte er seiner Herkunft entsprechen. Einer seiner Verwandten in Bosnien ist sich sicher, dass Sašas Herkunft „hier“ sei. Doch ist das tatsächlich so einfach?

Kritik

Das Gefühl von Heimat ist ein abstraktes und deutet auf die Beziehung zwischen einem Menschen und einem Ort hin. So verbinden manche Leute mit Heimat ihre sogenannte Wahlheimat, also denjenigen Ort, den man sich selbst zum Leben ausgesucht hat. Für manche wie Saša ist Heimat wiederum ein Ort, wohin man gezwungen wurde zu fliehen, aber ihn später als neue Heimat anerkennen wird. Heimat kann meiner Meinung nach genauso mit Personen oder mit Erlebnissen verbunden werden, also gar nicht zwangläufig mit einem Ort verknüpft. Auch Herkunft kann weitreichender definiert werden, denn nicht ohne Grund spricht man auch von sozialer Herkunft.

So beschreibt Saša Stanišić vor allem Heimat und Herkunft nicht nur als vielfältige Orte, die sein Leben prägten sondern auch als Teil des Erlebbaren. So scheint die Heimat der Oma nun die Vergangenheit zu sein. Sie verliert sich immer mehr in ihren Erinnerungen und scheint nicht so recht bewusst da zu sein, wenn ihr Enkel sie besucht. Sašas Geburtsort ist eine wichtige Erinnerung und damit ein Teil seiner Herkunft, aber manchmal wiederum scheint der Ursprungsort seiner Familie nicht viele mehr als eine unscheinbare Erinnerung für ihn.

Saša Stanišić nutzt im Laufe seines Lebens immer mehr sein Talent für Sprache. Sie ist der Grund, weshalb er in Deutschland bleiben darf. So zeigt auch Sprache, dass sie ein Teil des Heimatgefühls ausmachen kann. Sowohl die deutsche als auch die slavische Kultur und die damit verbundenen Sprachräume scheinen für den Autor Heimat.

Und genau diese Komplexität von Herkunft und Heimat fängt der Autor insgesamt beeindruckend ein. Er bricht es nicht auf eine Definition herunter, sondern eröffnet neue Blickwinkel und Interpretationsvarianten, was man unter den vermeintlich klaren Worten Heimat und Herkunft verstehen kann. Ihm gelingt schlussendlich eine sprachlich differenzierte, tiefgründige, aber auch berührende Autobiographie als Roman.

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Heimat muss nicht nur der Geburtsort sein, sondern kann auch an Erinnerungen, Erlebnisse oder an Lieblingsplätze geknüpft sein.

Fazit

Der Autor bedient sich der Vielfältigkeit der deutschen Sprache und lässt uns an seinen Gedankengängen zu Fragen teilhaben, die ihn und auch uns wohl ein Leben lang beschäftigen werden: Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Wo will ich herkommen und wo will ich selbst hingehen? Der Roman von Saša Stanišić ist facettenreich, intelligent geschrieben und absolut lesenswert. Er veranschaulicht, dass der Heimatbegriff gar nicht so eindeutig zu bestimmen ist und auch nicht immer nur mit positiven Gefühlen behaftet ist.

Und ohne zu viel verraten zu wollen: Bleibt dran! Das Ende des Romans wird nämlich interaktiv…

Saša Stanišićs Roman „Herkunft“ ist bei Luchterhand (Random House) im März erschienen. 

 

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