Eher zufällig ist mir die Kultur des Kurdischen Volks in gleich zwei zuletzt gelesenen Romanen begegnet und dabei wurde mir einmal mehr bewusst, dass sie ein Volk ohne Staat sind. Sie geraten immer wieder in die Konfliktlinie, werden verfolgt und vertrieben
(„Volk ohne Staat“ – Ein Spiegel-Artikel, Oktober 2019). Die Kurden stellen die viertgrößte ethnische Gruppe im Nahen Osten – unter anderem leben sie in der Türkei, im Irak, Iran, Armenien und in Syrien – und dennoch wissen wir, zumindest ich, so wenig über diese Kultur. Wer ist das Kurdische Volk? Hier zwei Romane, die das Thema aufgreifen:
Mein Onkel, den der Wind mitnahm“ von Bachtyar Ali
Erschienen im Unionsverlag, 2021
Djamschid Khan ist hinter dicken Gefängnismauern dünn geworden. Leicht wie Papier, sodass ihn eines Tages ein Windstoß erfasst und ihn fortträgt, über die Mauern des Gefängnisses hinweg und hinaus in die weite Welt. Immer wieder weht er davon, und immer wieder beginnt er ein neues Leben. Auch weil er sein altes jedes Mal vergessen wird. Einzig sein Neffe, aus dessen Perspektive das Buch verfasst ist, ist immer wieder auf der Suche nach Djamschid.
Übersetzt wurde der Roman von Bachtyar Ali „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“ aus dem Kurdischen. Wir uns hier im Irak, Djamschid und seine Familie gehören der kurdischen Ethnie an. Für mich scheint Djamschid Khan letztendlich ein Sinnbild für das kurdische Volk, das immer wieder verfolgt und vertrieben wird, immer wieder von Neuem beginnen und seine Identität neu suchen muss. Die Erzählung gleicht einer Fabel für Erwachsene, das auf schmalen 160 Seiten kurzweilig und berührend und zugleich eine bedrückende Geschichte ist. Denn obwohl wir durch das fantastische Element des Fliegens als Fähigkeit von Djamschid spielerisch in eine andere Welt mitgenommen werden, so ist es am Ende die Realität, die geschickt abgebildet wird: die Grausamkeiten des Krieges und die Instrumentalisierung und Ausbeutung von Menschen durch andere.
Obwohl das Buch so wenige Seiten hat, kann ich es nicht in einem Rutsch lesen, sondern muss die einzelnen Kapitel zwischendurch auf mich wirken lassen. Der vermeintlich ungebildete Neffe, der Ich-Erzähler, der in seinem Leben in den Diensten seines Onkels steht, scheint gänzlich fremdbestimmt zu sein. Dennoch überrascht er mich immer wieder mit seiner Unermüdlichkeit, seinem Onkel seine Wurzeln zurückzugeben.
Die Wurzeln des Kurdischen Volks?
„Dschinns“ von Fatma Aydemir
Erschienen bei Hanser Berlin, 2022
„Dschinns“ von Fatma Aydemir ein Familien- und zugleich Gesellschaftsroman, auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises und unser nächster Buchtitel im Lesezirkel mit Freundinnen:
Endlich kann sich Hüseyin seinen Traum erfüllen: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Jahrelang hat er dafür als Gastarbeiter hart gearbeitet, in einem für ihn fremden Land, Deutschland. Am Tag des Einzugs wird er jedoch an einem Herzinfarkt sterben. Zur Beerdigung reist ihm seine Familie aus Deutschland nach.
Als Leser:innen begleiten wir unter anderem die vier Kinder Ümit, Sevda, Peri und Hakan auf dem Weg zur Beerdigung. Jedem wird ein Kapitel gewidmet, sodass wir dabei tiefergehend von den jeweiligen Wünschen und Träumen, aber auch über ihr Verhältnis zu Vater und Mutter erfahren – es scheint jeweils ein diffuses Verhältnis zwischen Liebe und Distanz und zugleich zwischen Ehrfurcht und Wut. Umrandet wird der Roman mit einem Kapitel aus Hüseyins Sicht, dem Vater, und dem aus der Sicht der Mutter Emine. Beide Kapitel sind so geschrieben, als würde jemand mit ihnen sprechen, ihnen zum Teil Befehle geben, vielleicht der Geist ‚Dschinns‘? Als würden die beiden fremdbestimmt durchs Leben gehen, geprägt durch Religion und Obrigkeitsdenken. Im Gegensatz dazu versuchen sich die Kinder davon zu befreien und gehen ihr eigenes Leben. Gleichzeitig bleiben sie als Familie verbunden, arbeiten sich jeweils an ihren Eltern ab.
Während des Lesens war ich beeindruckt von der Erzählform, dem Fokus auf die Protagonisten. Die Charaktere wirken zu Beginn jeweils stereotypisch, als würden wir als Deutsche so über türkische Gastarbeiterfamilien denken. Jedoch gewinnen die Personen mit der Zeit an Tiefe, wir lernen die Charaktere dahinter kennen, beginnen sie zu verstehen. Vor allem das Kapitel über die älteste Tochter Sevda überzeugt uns im Lesezirkel. Es ist nicht nur das längste, sondern auch das intensivste Kapitel. Sie wurde als Kind in der Türkei zurückgelassen und erst später nach Deutschland geholt, wurde gezwungen früh zu heiraten und gelingt es dennoch mit Willenskraft, sich zu befreien und eine selbständige Frau zu werden. Sie konfrontiert ihre Mutter während der Beerdigung mit ihren Schwächen, zeigt welche Wut in ihr steckt. Wir können uns in sie hineinfühlen. Wir können mitfühlen. Während unserer Diskussion im Lesezirkel wird mir allerdings bewusst, dass die Autorin letztendlich zu ambitioniert schien und zu viel Themen anschneiden wollte. Diversität, Migrationsgeschichte und Feminismus, alles schien seinen Platz finden zu müssen. Hier hätten wir uns persönlich alle mehr Fokus gewünscht. So ist uns allen ein wesentlicher Handlungsstrang entgangen, was mit einem stärkeren Schwerpunkt womöglich nicht passiert wäre.
Und dennoch: „Dschinns“ ist ein packender Familienroman, der meinem Empfinden nach auch verdient auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand. Für mich greift er im Kern das Thema ‚Identitätssuche‘ auf und dabei kann Identität nun einmal verschiedene Facetten annehmen, zum einen die Suche nach der eigenen Identität, die der Familie, aber auch die eines ganzen Volkes. So begegnet mir auch hier wieder die Schicksalsgeschichte des Kurdischen Volks (hier aus der Türkei), wenn auch mehr im Hintergrund als bei „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“. Aber auch Fatma Aydemir greift auf, dass das Kurdische Volk immer wieder vertrieben wurde und einen Kampf austrägt zwischen Schweigen über die eigene Identität und das Einstehen für sich selbst. Schweigen, ein Element, das den Roman zusammenhält. Schweigen über die eigenen Gefühle, schweigen über die Probleme in der Familie, schweigen über die eigene religiöse und kulturelle Identität: „Die Suche nach ihrer Herkunft endete vor dem Schnauzbart ihres Vaters und den unberechenbar tränenreichen und dann wieder erstarrten Phasen ihrer Mutter. Assimilation, dachte Peri, hat eben keine Geschichte. Sie war das Gegenteil von Geschichte (…). Sie war die Leere im Herzen, wann immer jemand von Heimat sprach.“
Übrigens behandelte Fatma Aydemir das Thema nach der Kurdischen Identität bereits in ihrem Debütroman „Ellbogen“, das ich auch unglaublich gerne gelesen habe und es zu meinen Lesehighlights 2017 zählte.
Fazit
Beide Romane beweisen meiner Meinung nach einmal mehr, das Literatur einem einen unterhaltenden Zugang zu einem scheinbar komplexen Thema bieten kann, Romane bringen fremde Kulturen näher, bilden einen geschichtlichen Abriss, klären auf. Und das auf unglaublich spannende Art und Weise, ein Form des Lesens, die ich liebe.
Welches Thema ist euch einmal zufällig in einem Buch begegnet und hat euch dann nachhaltig beschäftigt?
„Mein Onkel, den der WInd mitnahm“ … was für ein wunderbar poetischer Titel. Schon der spricht mich total an und nimmt mich für das Buch ein. Aber auch „Dschinns“ klingt fesselnd. Zwischenmenschliche familiäre Beziehungen sind doch immer wieder hochinteressant und oft schwer konfliktbeladen, gerade vor dem Hintergrund einer mir fremden Kultur.
… und wieder zwei Titel mehr auf meiner Leseliste. Danke euch dafür.