*Werbung*
Der junge Verlag Ecco in dem ausschließlich Autorinnen verlegt werden und eine erlesene Auswahl an literarischen Geschichten präsentiert wird, hat es mir bereits mit seinem ersten Programm angetan. Das Motto der Verlagsmitarbeiterinnen heißt „Was wir lesen wollen“ und es trifft voll und ganz auf mich zu, es sind lebendige, lebensfrohe Geschichten, die gleichzeitig tiefgründige, bewegende Themen aufgreifen wie die Suche nach der Heimat oder nach dem eigenen Ich, Familienkonflikte, kinderloses Leben (Beitrag zu „Was wir wollen“) oder Trauer und Verlust. Und vor allem haben die Autorinnen für mich jeweils einen mitreißenden, emotionsreichen Schreibstil. Der Roman „Iss das jetzt, wenn du mich liebst“ über ein Liebespaar mit polnisch-türkischen Wurzeln und der Konflikt mit ihren Familien und Heimaten gehörte sogar zu meinen Lieblingen 2021.
„Es gibt keine Wale im Wilmersee“ von Laura Dürrschmidt
erschienen im September 2021, Ecco Verlag
Und dieser kreative Titel „Es gibt keine Wale am Wilmersee“ aus dem zweiten Verlagsprogramm hat mich genauso umgehend angesprochen und so habe ich mich an mein drittes Buch aus dem Ecco-Verlag „gewagt“. Here we go:
Inhalt
Die Ich-Erzählerin verlor eines Winters ihren Namen, sie war acht Jahre alt. Es war derjenige Winter, der so kalt war, dass der See in ihrem kleinen Dorf, der Wilmersee, zufror. Jedoch war er nicht kalt genug, als dass das Eis standhaft genug bleiben konnte, als sie und ihre Schwestern ihn betreten. Dabei verlor sie Alice. Und auch ihr Name ist im See versunken: ein See, über den ihre Mutter gerne Geschichten erzählte, vor allem die Geschichte darüber, wie er beinahe ein Meer geworden wäre.
Jedoch seit dem tragischen Unfall der Schwester gibt es kaum noch fröhliche Geschichten. Die Ich-Erzählerin zieht sich immer mehr zurück. Das einzige, was sie erfüllt, sind ihre Erinnerungen und Fachbücher über die Zeit – vielleicht weil es das Phänomen ist, das sie am schwersten greifen kann. Die Zeit ist zum einen seit ihrem achten Lebensjahr scheinbar stehengeblieben, zum anderen rast sie weiterhin, vor allem an ihr vorbei. Bis plötzlich Jora in ihrem Dorf auftaucht, ein Rotschopf, der immer. So seltsam abgehackt. Spricht. Aber vor allem bewegt diese junge Frau die Ich-Erzählerin dazu, sich zu öffnen.
„Vielleicht hat es ja etwas Gutes sagte sie dann, vielleicht hast du ja die Wale vom Wilmersee getroffen, da unten. Und sie erzählte mir diese blöde Geschichte von vorne, wie sie mir erst einmal vieles von vorne erzählen musste. Sie nannte mich nicht mehr beim Namen. Ich hatte ja auch keinen mehr. Der Name lag am Grund des Wilmersee, zusammen mit allem, was Alice gewesen war. […] Ich habe meinen Namen verloren und Ingrid ihren gewonnen, und es gab niemals Wale am Wilmersee“.
Kritik
„Es gibt keine Wale am Wilmersee“ reiht sich stilistisch wie erhofft ein, auch dieser Roman aus dem Ecco-Verlag bewegt mich umgehend mit einer poetischen, emotionalen Sprache. Obwohl in der Geschichte lange Zeit wenig passiert, fühle ich mich mitgerissen, mitten hineinkatapultiert in diesen kleinen, fast verwunschenen Ort, in dem die Zeit wohl stehen geblieben scheint und sich gleichzeitig widerwillig weiterdreht. Die Familie rund um die Ich-Erzählerin ist von herben Schicksalsschlägen geprägt. Sie versuchen zusammenzuhalten und brechen dennoch immer mehr auseinander, der Vater wird depressiv, die Mutter zieht es in die große Stadt, aber die Geschwister Ingrid, August und die namenlose jüngste Schwester halten zusammen. Und trotzdem werden sie diesem vermeintlichen Fluch über ihre Familie nie los, diese schwere Decke voll Erinnerungen hat sich auf sie gelegt, bis diese neue Fremde, sie hochhebt: diese verstaubte, schwere Decke. Die Autorin schafft es, dass man unmittelbar Sympathie für all die Protagonist:innen empfindet, obwohl sie allesamt etwas Skurriles an sich haben. Man möchte weiter vordringen in die Familiengeschichte, in der viele Geheimnisse verborgen liegen. Und auch Jora bringt neue Geheimnisse mit, die man durchdringen möchte.
Zwischendurch fehlt mir ein klarer Spannungsbogen. Ich war dazu geneigt, zu glauben, dass die Geschichte nur so vor sich hinplätschert, eher nett bleibt, nicht mehr und nicht weniger. Aline hatte gerade wohl ein ähnliches Erlebnis mit „Launen der Zeit“ von Anna Tylor. Sie glaubte, es sei eine nette, aber eher „langweilige“, unspektakuläre Geschichte und sie wurde eines Besseren belehrt. Und so wurde ich genauso überrascht. Spätestens Ende von „Es gibt keine Wale am Wilmersee“ holt das letzte Puzzlestück hervor, das letztendlich gefehlt hat, um das Gesamtbild der Geschichte zu verstehen – das Bild rund um Jora, Anton, Ingrid und die Ich-Erzählerin ohne Namen – das Bild rund um den Wilmersee, der fast ein Meer geworden wäre und in dem es dennoch nie Wale gab.
Fazit
Das Debüt von Laura Dürrschmidt kommt in Wellen. Mal sind es ruhige Wellen innerhalb des Romans, die einen durch ihre Monotonie und Eintönigkeit sogar scheinbar langweilen. Aber es kommen auch stürmische Wellen, die einen mitreißen und einen forttragen in eine träumerische, schöne Geschichte, die viel erzählt über Familie, Freundschaft, Zusammenhalt, aber auch Trauer und Verlust.
Vielen Dank an den Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars. Dies hat unsere Beurteilung nicht beeinflusst.