Let’s talk about SEXES: Rezension zu „Ich bin Linus“ von Linus Giese

*Rezensionsexemplar*

Selten, aber manchmal wenn ich mich dann doch zu einem Starbucks-Kaffee hinreißen lasse, kann es sein, dass ich mit einem Schmunzeln aus dem Laden trete: „Louisa“ steht dann vermutlich mit Edding auf dem weißen Pappbecher. Doch dieser kleine Faux-Pas stört mich kaum bis gar nicht. Überhaupt der Umstand an sich, das da mein Name steht, löst kaum Jubelstürme bei mir aus. Anders ist das bei Linus.

„Ich bin Linus“ von Linus Giese

Inhalt

Als er das erste Mal den Namen „Linus“ im Alter von 31 Jahren nennt, kann er es selbst kaum glauben. Jahrelang wollte er sich das nicht eingestehen: dass er eigentlich Linus ist. Das bei seiner Geburt zugeschriebene Geschlecht war wie eine Hülle, die nicht zum Kern passte. Später tritt er damit an die Öffentlichkeit und twittert darüber. Linus bloggt seit 2011 auf dem Buchblog buzzaldrins.de und seit 2017 auf ichbinslinus.de über seine Gender Transition.

Er bekommt zum einen viel Zuspruch und motivierende Worte, zum anderen muss er aber auch viel Hass einstecken: mit digitalem Mobbing beginnt es. Hass bleibt allerdings selten auf das Netz konzentriert. So weitet es sich bei Linus auf seinen Alltag aus. Er wird gestalkt, an seiner Arbeitsstelle und in seiner Wohnung aufgesucht. Sein „Deadname“ wird ans Klingelschild geklebt oder durch den Buchladen geschrien, in dem er arbeitet. Und dennoch sieht Linus es nicht ein, trotz mancher Empfehlungen, sich zu verstecken oder gar mit dem Bloggen im Internet aufzuhören. Zum Glück!

Der Autor nimmt uns mit in die Welt der trans Menschen und greift wichtige Bedürfnisse, aber insbesondere auch Herausforderungen auf, die sich durch die Transition und durch die fehlende Sichtbarkeit des Themas im Alltag ergeben – Herausforderungen, die einem als cis Menschen weitestgehend gar nicht bewusst sind. Linus erklärt zudem wichtige Begriffe der Queerszene, von trans, cis bis Deadname oder „they“ als Pronomen im Englischen.

Kritik

„Wenn ich mich hassen würde, würde ich immer noch mein früheres Leben leben – mit falschem Namen, falscher Frisur, falscher Kleidung. Aus Liebe zu mir selbst bin ich daraus ausgebrochen“ (S.107).

2017 habe ich den Buchblog „aufgeblättert“ ins Leben gerufen. In diesem Jahr outet sich auch Linus. Ich habe also von Beginn an seine Transition mitverfolgen dürfen. Ich erinnere mich diesbezüglich vor allem an ein Vorher-Nachher-Bild, bei dem ich ehrlich staunen musste. Auf dem einen Foto sieht man einen unbeholfenen Menschen, dem die Rolle Frau zugeschrieben wird. Dieser Mensch versucht sich anzupassen, fühlt sich aber sichtlich unwohl in der Rolle, „fehl“ am Platz. Auf dem anderen Foto sieht man den jetztigen Linus, selbstbewusster und zufriedener. Ich habe mich über jeden Schritt, den er im Internet preisgegeben hat, gefreut. Umso mehr erschrickt es mich, dass es Menschen geben kann, die systematisch ablehnen, dass sich Menschen für eine Transition entscheiden oder gar darüber in der Öffentlichkeit sprechen wollen. Für sie ist es „unnormal“. Und auch so scheint Geschlecht und Sexleben weiterhin im gesellschaftlichen Diskurs ein Tabu oder zumindest Privatsache zu sein. Aber warum?

Warum erscheint das Thema Geschlecht und Sex immer noch als ein Tabu? Diese Frage stellt sich auch Linus Giese in seinem Buch.

Linus sensibilisiert in seinem Buch für die Belange von trans Menschen, die diese versuchen, für sich einzufordern, ob still oder laut auf der öffentlichen Bühne. Denn unsere Gesellschaft ist geprägt vom Schubladendenken. Wie ist es mit Umkleiden beim Sport oder bei öffentlichen Toiletten? Und warum ist es bürokratisch so kompliziert, seinen Vornamen zu ändern, sobald es derjenige des anderen Geschlechts ist? Oder ob man Hormone nehmen will? Für fast alles benötigen trans Menschen Genehmigungen und psychologische Gutachten. Dabei müsste der Schritt doch eher unterstützt werden. Jeder der den aufwendigen Schritt der Transition geht, hat meines Erachtens sicher darüber lang genug nachgedacht.

Auch den sprachlichen Aspekt, auf den Linus eingeht, finde ich wichtig. Er veranschaulicht, wie viel Macht Sprache haben kann. Sprache kann ausgrenzen und gleichzeitig positiv diskriminieren. Sprache kann verletzen. So können Verallgemeinerungen diskriminierend sein, wie dass Männer nicht schwanger werden können. Was ist mit trans Männern, die schwanger werden können?

Das Wort ‚Geschlecht/Geschlechter‘ im Deutschen ist ein Beispiel, wie undifferenziert Sprache sein kann. Die englische Sprache lässt deutlich mehr Spielraum zu, indem sie zwischen dem biologischen Faktum ’sex‘ und „gender“, als Produkt kultureller und gesellschaftlicher Prozesse unterscheidet.

Linus differenziert und gibt einen umfassenden Überblick. Zum Teil hat es mich allerdings überwältigt – gerade was die Sprache betrifft. Entsprechend habe ich bei dieser Rezension gemerkt, dass ich länger über Formulierungen nachgedacht habe, weil ich nicht immer gleich sicher war. Mache ich das jetzt richtig? Immerhin gibt es da keine Verallgemeinerungen. Jeder, ob trans oder cis, hat eine andere Schmerzgrenze, ein anderes Empfinden, andere Bedürfnisse. Und deshalb kann ich das Buch letztendlich nur sehr ans Herz legen, für mehr Verständnis, Toleranz und Vielseitigkeit! Denn je mehr sprachliche und gesellschaftliche Differenzierungen im Alltag stattfinden, desto mehr nehmen wir sie sicher als selbstverständlich wahr und wenden sie richtig an.

Der wohl bekannteste Kaffeebecher?: Linus Giese hat seinen ersten Starbucks-Kaffeebecher mit der Aufschrift „Linus“ aufgehoben.

Fazit

Linus zeigt Ausdauer – und, auch wenn er sich das selbst nicht zuschreiben will, für mich Mut. Denn so gelingt es ihm, eine verletzliche Gruppe – die Queer-Szene – sichtbar zu machen, über die viele viel zu wenig wissen und worüber wir auch zu wenig erfahren. Es wirkt wie ein Tabuthema, das keines sein darf. Kein Mensch ist gleich. Aber jeder ist gleichberechtigt und sollte als „normal“ angesehen werden. Danke Linus für deine Zeilen und Worte, die ich so unterstreichen kann und innerhalb kürzester Zeit verschlungen habe.

„Ich bin Linus“ von Linus Giese ist am 18. August 2020 im Rowohlt Verlag erschienen: Zum Buch auf der Verlagsseite

Danke an den Verlag für die Zusendung des Rezenionsexemplars. Dies hat weder unsere Meinung noch die Bewertung beeinflusst.

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