Oxytocinmangel – ein gesellschaftsfähiges Krankheitsbild?

Eine Rezension: Generation Beziehungsunfähig, Michael Nast

Diagnose: Generationsübergreifende Bindungsdefizite: 

Generation Beziehungsunfähig



Bestseller noch vor der Bucherscheinung, ausverkaufte Lesungen bevor die Lesetour begonnen hat und viel zitiert in Zeitungen und Journalen: Michael Nast und sein Buch: „Generation Beziehungsunfähig“. Alles begann mit einer scheinbar harmlosen Kolumne, nach Nasts Angaben selbst mehr eine Beschreibung seiner eigenen Lebens- und Liebessituation, die in ihrer Ironie im Titel sein i-Tüpfelchen findet. Er hatte nicht die Absicht, ein gesellschaftliches Krankheitsbild abzubilden, dennoch hat genau diese Diagnose dazu geführt, dass die benannte Generation Y in ihrer Beziehungsqualität geprüft wird. Der Text hat so viele Leute angesprochen, dass der Server des Blogs im gegenteil bereits am ersten Abend zusammengebrochen ist und in der Woche ein neuer Server gekauft werden musste. Es folgten viele Journalisten und Blogger, die über die Generation Beziehungsunfähig diskutierten.

Leiden wir, die junge Generation, also an einem chronischen Oxytocinmangel? Ist diese Immunität gegenüber dem Bindungshormon eine Volkskrankheit geworden?
Zumindest haben sich einige Faktoren in unser gesellschaftliches Leben eingeschlichen, die meiner Meinung nach dieses beziehungsunfähige Verhalten begünstigen.
Jahrzehntelang kämpfte man dafür, frei wählen zu können, wen man als Partner haben

Generation auf der Suche
nach Perfektion

möchte, man wollte die romantische Liebe für immer und nicht nur eine dauerhafte Zweckbeziehung. Doch war die Liebesbeziehung so selten, dass man sie mehr aus Märchen kannte, als dass es sie in der unmittelbaren Umgebung zu geben schien. Dieses wichtige freiheitliche Gut haben wir uns über die Generationen hinweg erfolgreich erkämpft.

Michael Nast beschreibt in seinem Buch hingegen auch die Probleme und Herausforderungen, die uns die Freiheit in der Liebe gleichzeitig mitgegeben hat. Denn diese Freiheit kann bei manchen zu einem ewigen Wahlkampf führen, zum Kampf in der Partnerwahl. Es sind zwar nicht mehr die Märchen, die unser Bild von Liebe verromantisieren, sondern noch eher noch eher die Hollywoodfilme, doch wir idealisieren noch immer gern. Wir sind heute wahrscheinlich nicht weniger romantisch, dafür anspruchsvoller geworden, den einen Mann oder die eine Frau nach unseren perfektionierten Vorstellungen zu finden.

Nach Nast gibt Liebe immer Gesprächsstoff, weil sie sich mit der Zeit mitgehend verändert.  Aber ich habe beim Lesen des Buches bemerkt, dass sich alles wiederholt. Bestimmte Beziehungstypen treten immer wieder auf. Ich hatte das Gefühl, meine Freunde oder mich selbst wiederzuerkennen. Leute können sich über ähnliche Geschichten unterhalten. Egal wie verschieden die Leute sind, die Gefühle sind die gleichen. Liebe ist sensibel, sie berührt, aber verärgert auch schnell. Zwischenmenschliche Beziehungen bleiben im innersten Kern unergründlich, sodass man sich gern immer wieder über sie unterhält. Man kennt sich genauso wenig wie die anderen. Sobald es um Liebe und um die Sensibilität von Gefühlen geht, versucht man nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst zu verstehen und zu ergründen.

Das wesentliche Problem an der Sache ist jedoch, dass wir nach Nast ein perfektes Ich

Generation Online-Filter

projizieren, was dazu führt, dass die Ansprüche an einen Partner genauso unrealistisch werden können wie das eigene Selbstbild.

Die Anforderungen an den perfekten Partner wachsen. Wir suchen nach dem Du zum perfekten Ich. Wir suchen nach dem perfekten Beruf, er soll unsere Berufung sein. Wir wetteifern in Auslandsaufenthalten, ehrenamtlichen Engagement oder in unserer gesundheitlichen Fitness und Ernährung. Unser zusätzlich durch Social Media aufpoliertes Selbstbild könne dazu führen, dass wir es als unser reales Bild begreifen. Manche Passagen diesbezüglich sind in dem Buch zugespitzt, doch in ihrer Quintessenz haben sie einen wahren Kern: Vermutlich ist es zu sehr unser eigenes Projekt geworden, uns selbst zu lieben und zu verwirklichen, dass wir auch vergessen, anderen einen Platz in unserem Leben zu geben. „Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest“, ist zum Beispiel ein Satz, mit dem ich persönlich auch aufgewachsen bin. Was heißt es nun nach Nast? Lieben wir uns so sehr, dass es mehr als egal geworden ist, wen wir heiraten? Konzentrieren wir uns zu sehr auf das Selbstlieben? Ist der Social-Media-Selbstdarstellungswahn eine digitale Flucht? Unser immer noch fehlendes Selbstbewusstsein versuchen wir vielleicht mit Filtern bei Instagram und Snapchat oder dem Retuschieren durch Bildprogramme zu vertuschen. Entgegenhalten möchte ich, dass Online Medien uns dennoch auch die Möglichkeit geben, einfach mal zu zeigen, was wir haben, können und erleben. Es gibt uns die Möglichkeit, uns mitzuteilen und mitzubekommen, was unsere Freunde so treiben, unabhängig von Distanz und Zeit und Raum.

Was mir an Nasts neuem Buch gefiel, dass es sowohl um die Beziehungen und die möglichen Beziehungsunfähigkeiten unserer Generation als auch um andere Alltäglichkeiten geht, die uns beschäftigen. Warum betrachten wir den Beruf immer mehr als notwendige Selbstverwirklichung, was tun, wenn wir dem Alltagstrott unterliegen und nichts verändern, was uns stört? Wie verhalten wir uns, wenn wir verliebt oder unglücklich verliebt sind? Was ist das neue Phänomen Mingle, können Frauen und Männer Freunde sein? Wie ist es, wenn das Internet für mehr als 5 Minuten ausbleibt? Warum kann man in Berlin kein Geld verdienen, trotzdem will jeder hin? Gibt es einen zeitlichen Punkt, an dem wir vernünftiger werden  sollten und verschiebt er sich, weil 30 das neue 20 ist?
Nast nimmt unsere Generation auf die Schippe und beschreibt die Empfindlichkeiten unseres modernen Beziehungsverhaltens mit Witz und Ironie. Ich musste an vielen Stellen schmunzeln oder lachen, gerade weil ich mich oder Freunde wiedererkannte, was in der U-Bahn vielleicht manchmal den einen oder anderen komischen Blick mit sich zog.

Was mich persönlich etwas gestört hat, ist, dass ich mich an manchen Stellen in eine Sitcom versetzt fühlte. Durch das Gelächter im Hintergrund wird einem gesagt: Achtung, die Stelle ist witzig, falls du sie nicht verstanden hast, bitte jetzt lachen. Fast auf jeder Seite gab es Wörter, Wortgruppen oder Sätze, die fett gedruckt waren. Sie sollten auf wichtige oder vermeintlich besondere Thesen verweisen, was vom Prinzip her auch Struktur gibt und zeigt, worauf der Autor wesentlich hinaus will. Es kann allerdings auch eine Einschränkung der Selbstreflexion sein, welche Gedanken und Einstellungen man prägnant findet. Vielleicht liegt es daran, dass ich aus der Generation Y komme. Ich bin anspruchsvoll genug, um selbst etwas für mich herausstellen zu wollen. 😉

Auf die Gefahr hin zu spoilern: 

Generation Oxytocinmangel

Michael Nast konfrontiert uns zwar mit den Defiziten der jüngeren Jahrgänge, spitz formuliert als gesellschaftliche Phänomene, das generationsübergreifende Streben nach Perfektion und die Beziehungsunfähigkeit. Doch wie es immer so ist, wir Digital Natives neigen dazu Diagnosen zu googeln. Davor warnt Michael Nast genauso. Wie jeder bekanntlich weiß, ist dies buchstäblich der eigene diagnostizierte Tod, denn in den Foren und Webseiten des unergründlichen World-Wide-Web findet man gern Schreckensszenarien feinster Art. Es gelingt einem gar nicht, die eigenen Symptome realistisch deuten zu können.

Fazit: Wir sollten und können uns gern hinterfragen, ohne jedoch zu dramatisieren. Ja, auch wir tragen das Bindungshormon Oxytocin alle in uns. In meinem Freundeskreis beginnen immer mehr zu heiraten und Familien zu gründen und geben mir zumindest die Hoffnung, dass unsere Generation noch nicht hoffnungslos verloren ist. Das Buch „Generation Beziehungsunfähig“ in seinem kolumnenartigen Stil ist kurzweilig und wunderbar auch für kurze Intermezzos des Alltags wie beim Warten oder in der U-Bahn geeignet. Man sollte die Aussagen nicht zu sehr auf die Goldwaage legen, sondern mit Ironie leicht nehmen. Das gilt auch für die pauschalierte Diagnose: Beziehungsunfähigkeit und Oxytocinmangel einer ganzen Generation. Sich und Freunde wiedererkennen und dabei herzhaft lachen ist beim Lesen vorprogrammiert.
Ich hatte das Glück bei der ausverkauften Buchpremiere in Berlin am 17. Februar dabei zu sein. Michael Nast, sogar gehandelt als Sprachrohr einer ganzen Generation, nahm sich zumindest selbst nicht so ernst und situativ komisch schaffte er es, den einen oder anderen Patzer der Technik oder sein Blätterchaos mit dem Publikum wegzulachen – soviel zur Generation Egoismus.

Verwendete Literatur und weiterführende Links:

Nast, Michael: Generation Beziehungsunfähig, Hamburg 2016.
Neon: Die Tindergesellschaft (04/2015), S.48-60.
Luise blättert auf: Liebe, das neue Wegwerfprodukt 2.0 (10/2015).
Luise blättert auf: Jagd auf Traumpartnerschnäppchen (11/2015).
Zeit-Online: Oxytocin – Unsere Wunderdroge (04/2016).
Faz-Online: Bindungshormon Oxytocin – Das macht die Gefühle, (04/2015).
Welt-Online: Das Gesicht der Generation Beziehungsunfähig

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