Nachdem Alines Über-den-Tellerrand-Projekt im März das Sachbuch im Allgemeinen war: also ein Genre, mit welchem sie sich üblicherweise schwer tut, so lese ich tatsächlich gerne auch Sachbücher in meiner Freizeit. Deshalb suchte ich mir ein Sachbuch einer Autorin aus, das für mich eine andere Perspektive aufzeigt – die vor allem auch unbequem für mich sein könnte.
Sachbuch mal anders – Eine Frage der Perspektive
Ende März 2023 folgten gleich vier Umwelttage aufeinander: am 21.03. der Welttag des Waldes, am 22.03. der Weltwassertag sowie der Welttag der Meteorologie am 23.03., der sowohl das Thema Wetter als auch Klima thematisiert. Und letztendlich folgte noch am 25.03., die Earth Hour („Stunde der Erde“), bei dem eine Stunde lang das Licht an öffentlichen Gebäuden, aber auch in privaten Haushalten, als Zeichen zum Energiesparen und für das Klima, ausgeschaltet wurde. Es handelt sich um Aktionstage, die aufrütteln und einen motivieren sollen, selbst im Umwelt- und Klimaschutz aktiv zu werden. Gleichzeitig wurde jüngst nach dem Koalitionsausschuss der Bundesregierung starke Kritik an den beschlossenen Klimamaßnahmen geäußert.
Eine der bekanntesten Klimaschutz-Aktivist:innen des Landes ist sicher Luisa Neubauer. Auch wenn ich ihre Arbeit unterstützenswert finde und Klimaschutz für mich ein wichtiges Thema bildet, so wirken ihre Argumentationen auf mich oft zu emotionsgeladen und nicht genug objektiv. Zudem wird sie gerne als Sprachrohr der Generation „Fridays for Future“ betrachtet. Dementsprechend wirkt es, als sei sie medial omnipräsent, z.B. als beliebte Gästin in Talkshows. So habe ich manchmal auch den Eindruck, ihr Argumentationen bereits zu kennen, ohne so recht noch hinzuhören. Nun wollte ich mich aber doch einmal ihrer Argumentation nähern, da sie eben ein so wichtiges Thema, den Klimaschutz, nach vorne bringt. Ich wollte ihr besser zuhören, im wahrsten Sinne des Wortes: mit dem Hörbuch, gelesen von Luisa Neubauer.
Luisa Neubauer & Dagmar Reemtsma: „Gegen die Ohnmacht – Meine Großmutter, die Politik & ich“
Erschienen Oktober 2022, im Tropen Verlag (Klett Cotta) , als Hörbuch bei Tacheles!, z.B. über BookBeat
Inhalt
Luisa Neubauer und ihre Großmutter Dagmar Reemtsma haben eine besondere Beziehung zueinander. Sie besprechen alles miteinander: Persönliches, genauso wie die großen Fragen von Geschichte, Politik und Gesellschaft. Luisa wurde in ihrem sozialen und aktivistischen Engagement von ihrer Oma geprägt.
Sie wurden in sehr unterschiedliche Zeiten hineingeboren, mussten aber beide früh eine eigene Haltung finden. Oma und Enkelin verbindet also ihr Einsatz gegen die Ohnmacht angesichts der Krisen und Kriege der Welt.
In dem Buch werden ihre jeweiligen Lebenswege und Hintergründe der Personen geschildert und wie sie letztendlich dadurch zum Umwelt- und Klimaschutz gekommen sind. Dagmar Reemtsma ist fast 90 Jahre alt, sie ist ein Kriegskind, außerdem heiratet sie in die einflussreiche Familie Reemtsma ein, ohne damals deren besonderen Einfluss, vor allem auch im Nationalsozialismus, zu kennen. Ihr eigener Vater kam wiederum wegen politischen Widerstands in einem KZ ums Leben. Sie lernte sich als Frau zu emanzipieren und engagiert sich bereits jahrzehntelang für Umweltschutz. Ihre Enkelin Luisa Neubauer ist in Friedenszeiten aufgewachsen. Doch sie musste verstehen lernen, dass das Land, in dem sie aufwächst, ihre Generation nicht vor der Klimakrise schützt. Bereits in Schulzeiten befasst sich sich deshalb mit Umwelt- und Klimaschutz. Und auch sie verliert früh ihren Vater, der zum Anfang ihres Studiums an Krebs verstirbt.
Das Buch liest bzw. hört sich an wie ein Zwiegespräch zwischen Oma und Enkelin, in dem über die drängenden Fragen gesprochen wird, vor allem auch wie wichtig es ist, im Bereich Klimaschutz stärker zu handeln, aber auch wie die Generationen von einander lernen und zusammen anpacken können, natürlich auch für den Klimaschutz!
Kritik
Zuallererst sei gesagt, dass die Rezension die Klimaschutzdebatte als solches nicht abbilden soll und ich hier auch nicht auf alle Argumente von Luisa Neubauer eingehen will und kann. Das würde nämlich definitiv den Rahmen sprengen. Hier gibt es auch weiterhin Meinungsverschiedenheiten, zwischen Luisa Neubauer und mir. Wichtig bei der Rezension ist mir vielmehr, zu verdeutlichen, inwiefern mir das Buch hilft, mich Luisa Neubauer als Person und ihren Argumentationslinien zu nähern.
Das Sachbuch ist für mich nicht nur ein Perspektivwechsel, was die Meinung zu einem bestimmten Thema betrifft, sondern auch zwischen zwei Generationen, die scheinbar unterschiedlicher nicht sein könnten und doch die Möglichkeit haben, von einander zu lernen. Dagmar Reemtsma steht stellvertretend für die (Nach)-Kriegsgeneration, die zum einen Verzicht und Mangel als Alltagsphänomene kennenlernte und wohl genau deshalb in der Friedenszeit Konsum zelebrierte. Zum anderen verkörpert Luisa die Generation, der bewusst wird, wie notwendig wieder Verzicht werden sollte, um unsere Erde zu retten. Dieser Perspektivwechsel reizte mich, da wir gerne auch in unserer Generationen-Blase verharren.
Was mich positiv überrascht
Dagmar Reemstma lerne ich als eine weltoffene Frau kennen, die stetig versucht, sich gegen verhärtete Ansichten in der konservativen Politik, vor allem auch im Umweltschutz, aufzulehnen. Ihr Mittel waren die Leserbriefe. Luisa vermutet, dass ihre Oma – hätte es Instagram früher schon gegeben – sicher Sinnfluencerin geworden wäre. Ihre Geschichte als Frau von Jan-Philipp Reemtsma, und so Teil einer der einflussreichsten Hamburger Familien durch ihr Unternehmen in der Tabakindustrie, bewegte mich. So erfuhr sie erst Jahrzehnte später durch eine Vorlesung über den Einfluss der Familie im Nationalsozialismus. In den 50ern beruhigte es sie vor allem, Wohlstand genießen zu können. Doch wird diese Vorlesung ein Wendepunkt in ihrem Leben darstellen. Sie lernte einmal mehr, wie machtvoll ‚Schweigen‘ sein kann. Sehr wohl kann ich nachvollziehen, dass Luisa Neubauer ihre Oma als Vorbild sieht.
Auch finde ich gut, dass Luisa Neubauer offen mit ihrer privilegierten Situation umgeht, als dass sie aus einer bekannten, wohlhabenden Familie stammt. Denn genau hier besteht häufig Kritik, als dass Engagement für den Klimaschutz nur Privilegierten wie Luisa Neubauer vorbehalten sei. Als dass sie womöglich vor allem durch die öffentliche Präsenz der Familie bekannt wurde und es sich nur mit Hilfe von familiärer Unterstützung, leisten kann, sich intensiv für das Klima zu engagieren. Und gleichzeitig gewinne ich den Eindruck, dass Luisa Neubauer bereits früh selbst aktiv wird und sich der vermeintlichen Ohnmacht der jungen Generation erhebt. So wie sie es von ihrer Oma gelernt hat, die aus einer Generation (in Westdeutschland) stammt, in der sich Frauen erst emanzipieren, also sich auch aus der Ohnmacht heraus kämpfen mussten.
Außerdem werden mir Luisas Argumentationslinien durch das (Hör-)Buch verständlicher, da ich sie hier nicht in Talkshow-Diskussionen verstrickt sehe, in denen sie sich auch oft gegen alte weiße Männer mit konservativen Ansichten behaupten muss. So finde ich beispielsweise folgenden Diskussionsansatz interessant, wenn es um die politische Macht durch fossile Energien geht, die durch den Ukraine-Krieg einmal mehr wieder an Bedeutung gewinnen. Aktuell, da gebe ich ihr recht, bleiben fossile Energien weiterhin ein wesentliches Machtinstrument in Politik und Wirtschaft. Es entstehen machtpolitische Abhängigkeiten, wie das berühmte Bild von der Verneigung des grünen Politikers Robert Habecks gegenüber den Emir in Katar aufzeigte.
Was mir weiterhin negativ aufstößt
Dem gegenüber setzt Luisa Neubauer die erneuerbaren Energien, die ihrer Meinung nach vielmehr kollektive Macht durch geteilte Handlungsgemeinschaften ermöglichen. Hier frage ich mich, ob sich dies nicht wiederum verändern könnte, wenn erneuerbare Energien mehr Machteinfluss gewinnen und dann auch als wichtiger wirtschaftlicher Faktor von Schurkenstaaten wahrgenommen werden? Wenn zum Beispiel anstatt Öl Sonnenenergie durch Solaranlagen in der Wüste als Machtmittel eingesetzt werden kann? Luisa Neubauer besetzt meiner Ansicht nach die erneuerbaren Energien ausschließlich positiv und die fossilen Energien als negativ.
Diesen argumentative Ansatz empfinde ich als zu schwarz weiß, denn aktuell sind erneuerbare Energien noch nicht genug ausgebaut, als dass sie fossile Energien vollkommen ersetzen könnten. Und falls sich das hoffentlich zukünftig verändern sollte, so kann sich allerdings genauso der Machteinfluss in Bezug auf erneuerbare Energien verändern. Hier können Länder ohne ausreichende Ressourcen wie Deutschland wieder in Abhängigkeiten geraten, gegenüber Ländern mit mehr Sonnen-, Wind- oder Wasserenergie. Es ist nur ein Beispiel aus dem Buch, das aber aufzeigen soll, dass ich sehr wohl die Argumentation von Luisa Neubauer nachvollziehen kann, aber häufig weiterhin als nicht differenziert genug ansehe.
Zudem geht Luisa zwar auf Kritik gegenüber ihrer Person ein, für meinen Geschmack aber zu kurz. So geht es um den Kritikpunkt der Doppelmoral: also dass sie zum einen moralisch den Zeigefinger erhebe, zum anderen aber selbst wiederum für ihr Engagement im Klimaschutz häufig das Flugzeug als Transportmittel nutzt. So versucht sie es zu entkräften, indem sie darauf eingeht, dass das heutige gesellschaftliche System es noch nicht ermögliche, dass man alles perfekt umsetzen kann, es entspreche auch einer Art Ohnmacht. Aber auch ich wünsch mir von einer Aktivistin wie Luisa Neubauer, dass sie konsistenter in ihren Handlungen bleibt, da sie nun mal auch Vorbild sein kann. Insofern sollte sie in der Öffentlichkeit häufiger auch transparent bleiben, wie sie zu Terminen anreist und zumindest sollte ersichtlich bleiben, ob es Alternativen gebe, wie sie es wohl bereits bei der Klimakonferenz in Ägypten bewiesen hat. Sie steht als Aktivistin in der Öffentlichkeit und muss so mit Kritik rechnen. Andererseits sollte erwähnt werden, dass man gegenüber Aktivist:innen nicht die gleichen Maßstäbe wie gegenüber Politiker:innen setzen darf.
Insgesamt zieht sich die Ohnmacht als wesentliches Element wie ein roter Faden durch das Sachbuch: die gesellschaftliche Ohnmacht wie die der älteren Generation durch ihre Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Oder die Ohnmacht der jungen Generation gegenüber den Auswirkungen des Klimawandels, verursacht durch frühere Generationen, denen die verheerenden Entwicklungen eigentlich schon lange bekannt sind. Gefolgt von einer ganz neuen Ohnmacht: dem Ukraine-Krieg, der während der Entstehung des Buchs begann. Aber auch die persönliche Ohnmacht der beiden Autorinnen, wie die durch den frühen Tod der Väter. Meiner Meinung nach wird fast eine zu große Fülle an Themen aufgegriffen, sodass man zwischen durch vergessen könnte, worum es letztendlich zentral gesehen soll: um Klimaschutz. Hier hätte ich mir deutlich mehr Anteil erhofft, auch wenn mich die Hintergründe genauso interessiert haben. Hier müsste man wahrscheinlich noch weitere Texte und Bücher von Luisa Neubauer hinzuziehen.
Fazit
Durch das Buch sind mir die Hintergründe Neubauers und ihre inneren Beweggründe für ihr Engagement deutlicher geworden, auch ihre Argumente in der Klimaschutz-Debatte konnte ich besser nachvollziehen. Dennoch blieb die Argumentation für mich zum Teil zu schwarz weiß, zumal ich mir auch gewünscht hätte, dass machen Gedankengänge stärker vertieft worden wären.
Aber die beiden Autorinnen bekommen am Ende die Kurve und zeigen vor allem auf, dass Klimaschutz für viele bereits interessant ist, aber immer noch nicht als existentiell genug angesehen wird. Dieser These stimme ich zu! Und vor allem demonstrieren Oma und Enkelin dafür, dass Klimaschutz ein Thema aller Generationen werden sollte. Mehrere Aktionstage zum Thema Umwelt hintereinander zu legen, wie aktuell im Monat März, ermöglicht sicher, dass die öffentliche Aufmerksamkeit stärker auf den Umweltschutz in seiner Breite und Vielfältigkeit gelenkt wird. Es können Synergieeffekte entstehen. Aber gleichzeitig sind solche Aktionstage nicht genug, sie geben mehr Tatkraft vor, als sie letztendlich wirklich bewirken. Und entscheidend ist der Handlungsbedarf in der nationalen sowie globalen Politik und Wirtschaft – eine Ohnmacht, die es zu bewältigen gilt, aber bei der ich mich genauso frage, ob wir sie wirklich je aufbrechen können?
Es ist also wichtig, dass Klimaaktivist:innen wie Luisa Neubauer immer wieder den Finger in die Wunde legen, gerade auch im Hinblick auf politische Entscheidungen wie den benannten aktuellen Koalitionsausschuss der Bundesregierung. So Luisa auf Twitter dazu (28. März 2023): „Im Koalitionsvertrag hat sich die Ampel geschlossen zur 1,5°C-Grenze bekannt. Nun droht sie im #Koalitionsschauss wieder den Weg für fossile Interessen frei zu machen, statt verfügbare, bezahlbare & effektive Klimaschutz-Lösungen umzusetzen. Es wäre fatal“.