Die DDR, eine Leerstelle?: Buchbesprechung zu „Nachwendekinder“ von Johannes Nichelmann

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Letztes Jahr, rund um den 30. Jahrestags des Mauerfalls sog ich Informationen über die DDR und die Wende auf, überall. Sei es in Zeitungen, Bücher, Dokus oder bei Podcasts, nahezu jeder Artikel und Beitrag dazu sprach mich an. Und ihr ahnt es vermutlich schon: Es gab einen Jojo-Effekt, es entstand Überdruss bei mir. Das folgende Buch stand seitdem in meinem Regal. Mein Fehler dabei war vor allem, dass ich annahm, es sei ein Roman: noch eine dramatische, fiktive Geschichte über die DDR und ihr Überwachungssystem? Lieber nicht.

Doch nun, Monate später, bekam ich wieder Lust und sollte feststellen, dass es Erfahrungsberichte sind – unglaublich gut recherchierte und authentische Erfahrungsberichte, die mir erneut einen unbekannten Blickwinkel geben – den Blickwinkel auf mein Geburtsland, das nicht mehr existiert, genauso wie das von Johannes Nichelmann.

Nachwendekinder Buchbesprechung Aufgeblättert
„Nachwendekinder“ von Johannes Nichelmann

„Nachwendekinder – Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“

erschienen im September 2019 im Ullstein-Buchverlag

Zum Buch auf der Verlagsseite

Inhalt

Johannes Nichelmann ist Jahrgang 1989 und arbeitet als freier Reporter, vor allen für den Deutschlandfunk und weitere öffentlich rechtliche Sender.

Seine erste wesentliche Erfahrung mit der DDR ist wohl der Moment gewesen, als er mit seinem Bruder die NVA-Uniform seines Vaters im Schrank finden soll und sie anzieht. Als sein Vater dies mitbekommt, wird er ärgerlich, nahezu wütend. Erst als Johannes älter ist, wird ihm so recht bewusst, was das bedeutete – dass sein Vater etwas verheimlichen könnte und dass er mit einem vermeintlich, verklärten Bild über die DDR aufwuchs. (Ist das deine Interpretation oder so geschrieben?) Als er im Alter von 13 Jahren mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Bayern zieht, wird das Heimatbewusstsein noch stärker, obwohl er seine Heimat gar nie kennen lernen durfte. Jetzt erst beginnt er sich so recht als „Ossi“ zu definieren und die DDR zu idealisieren, um sich abzugrenzen. In Bayern wurde er häufig nur als das gesehen, als „Ossi“, als der Außerirdische aus dem fernen Osten. 

Neben seiner persönlichen Geschichte macht sich der Journalist auf die Suche nach weiteren Nachwenderkindern. Mit welchen Sichtweisen über die DDR sind sie aufgewachsen? Haben sie mit ihren Eltern über die DDR sprechen können? Welche Erfahrungen und Einstellungen gab es in den jeweiligen Familien? Was sind ihre Leerstellen im Hinblick auf ihre Herkunft und Familiengeschichten? Johannes, aber auch Franziska, Lukas, Max, Melanie, Beatrice oder Sandro – sie alle haben ihre Vergangenheit, in der die DDR eine Rolle spielt. Sie können sich nur nicht mehr daran erinnern, da sie in der Wende-Umbruchphase Babys oder Kleinkinder waren. Sie alle haben dennoch oder gerade deshalb ihre Leerstellen. Es sind die fehlenden Gespräche mit den Eltern oder die Suche nach einer Identität, die auf etwas basiert, was sie nicht kennen. Und genau deshalb konfrontieren sie sich nun durch die Interviews mit Johannes, aber auch indem sie das Gespräch mit ihren Familien bewusst suchen. 

Nachwendekinder Buchbesprechung Aufgeblättert
Zwei Erinnerungsstücke, die ich beherbergen darf: Eine Willkommenszeitung aus dem „Westen“ und ein Practica-Kamera aus dem „Osten“

Kritik

Es ist unfassbar. So lange hat mich schon kein Sachbuch mehr mitgerissen. Es war, als lese ich einen packenden Roman. Ich wollte das Buch zum einen nicht aus der Hand legen, zum anderen aber gerne weiterhin lesen, um neue Erkenntnisse gewinnen zu können. Es war wie ein Stück weit mich selbst kennen zu lernen. Johannes Nichelmann gelingt es, die Leser persönlich mitzunehmen, indem er ein Stück von seinem Leben und das der Interviewten Preis gibt. Sogar ein Spannungsbogen wird gezogen. Gemeinsam mit den Protagonisten sucht er nach Leerstellen. „Die Leerstelle“ ist sein roter Faden und dies sowohl auf der Seite der Nachwendekinder als auch auf der der Familienmitglieder. Johannes Nichelmann darf sogar bei Gesprächen dabei sein, wenn seine Bekannten ihre Eltern konfrontieren und nach der Vergangenheit fragen. Das Buch „Nachwendekinder“ ist umfassend recherchiert und wissenschaftlich untermauert und zu gleich persönlich und emotional.

Wer meinen Blog schon länger verfolgt, weiß, dass auch ich ein Nachwendekind bin. Mein Heimatort ist Magdeburg/Sachsen-Anhalt. So gab es in meiner Biographie beides: die Personen, die der DDR-Führungsebene folgten und gar offizielle Mitarbeiter waren. Es gab aber auch diejenigen, die die Einschränkungen hautnah miterleben mussten, da sie systemkritisch agierten. Bei uns in der Familie wurde viel über die DDR gesprochen und das System stark kritisiert. Dass die DDR aber auch ein Teil meiner Vergangenheit ist, obwohl ich sie gar nicht kennen lernen durfte bzw. musste, erlebte ich erst so recht mit 14. Es sollte die Zeit sein, als es darum ging, ob man Konfirmation, Firmung oder Jugendweihe haben würde. Letzteres ist in den neuen Bundesländern eine beliebte Alternative zu den religiösen Zeremonien, um das Erwachsenwerden zu feiern. Und so gab es quasi nur entweder oder. Aber ich sollte weder das eine, noch das andere feiern. Zum einen war ich nicht getauft, zum anderen verbanden meine Eltern das Fest mit den Restriktionen und dem politischen Druck der DDR-Regierung. Die Jugendweihe zu verweigern, konnte z.B. bedeuten, weder das Abitur machen, noch studieren zu können. Ich stand zwischen den Stühlen, zwischen: Ich kann die Beweggründe meiner Eltern nachvollziehen und „Das hat doch gar nichts mehr mit früher zu tun!“. Es ist immer noch eine Diskussion, die ich manchmal mit Freunden (aber auch mit mir selbst) führe: Ist die Jugendweihe ein Relikt aus der DDR oder mittlerweile ein unkritisches Jugendfest? Meine Leerstell

Manchmal war das Thema DDR omnipräsent bei uns. Umso mehr interessierten mich die Erlebnisberichte, in denen es genau umgekehrt sein sollte: Familien, in denen man nicht über die DDR sprach oder Letztere in ein positives Licht stellte. Die verschiedenen Biographien geben ein umfassendes, kontroverses Bild über die DDR. Nichelmann schafft es, dass man auch bei sich über mögliche Leerstellen nachdenkt. 

Der Autor ergründet aber nicht nur die Vergangenheit und versucht ein ganzheitliches Bild der DDR zu umreißen. Er analysiert auch das neue Ostbewusstsein. Noch immer scheint es Unterschiede zu geben zwischen Ost und West. Noch immer identifizieren sich Menschen aus neuen Bundesländern als „Ostdeutsche“. Der Osten scheint durch seine besondere Vergangenheit und die speziellen Entwicklungen nach der Wende immer noch „anders“ zu sein. Das Ostbewusstsein entsteht durch Abgrenzung – eine These, die ich prägend fand. 

„‚Was ist also Normal-Deutsch?‘ fragt Daniel [Daniel Kubiak, Soziologe Berlin Humboldt-Universität] und gibt sich selbst die Antwort: ‚Es schein Westdeutsch zu sein. Das sind die, die das Wort führen und über die anderen Gruppen reden können, möglicherweise auch wohlwollend. […] Das ist die ‚Veranderung‘ von Anderen [Othering]. Kurz gesagt: Wenn in Ostdeutschland ein Problem auftritt, das ist es ein Problem von Ostdeutschland. Wenn in Westdeutschland ein Problem auftritt, dann ist es ein Problem von Gesamtdeutschland.“(S.59)

Hier sollte wir meines Erachtens ansetzen. Klar. Wir können die Unterschiede nicht einfach unter den Tisch kehren. Sie sollte aber nicht immer als spezifisch ostdeutsche Probleme hervorgehoben werden wie Rechtsextremität, Arbeitslosigkeit oder Politikverdrossenheit. Gemeinsam sollten wir die Leerstellen der ostpolitischen sowie der ganzheitlich deutschen Vergangenheit suchen und füllen.

Fazit 

Meiner Meinung nach ist dieses Buch etwas, das nicht nur Nachwendekinder aus neuen, sondern auch aus alten Bundesländern lesen sollten. Es ist bestimmt auch etwas für diejenigen, die sich mit ihrer eigenen Geschichten oder mit der Geschichte des „anderen“ beschäftigen wollen, je nachdem auf welcher Seite sie von der Mauer aufgewachsen und erwachsen geworden sind. Mich selbst hat es zwar wohl auch vor allem berührt, da es mich persönlich betrifft. Dennoch bin ich überzeugt, dass es genauso für andere lesenswert und mitreißend sein wird, da Johannes Nichelmann einen Nerv trifft. Und es ist, wie wir gelernt haben, nicht nur eine „ostdeutsche“ Angelegenheit.

Heute vor 30 Jahren, am 13. Juni 1990, begann der Abriss der Berliner Mauer. Am 03. Oktober feiern wir das Jubiläum der Wiedervereinigung. Kurz nach der Wende dachte man, dass man bald überall das nicht mehr sprechen werde. Ich finde es gut, dass wir weiterhin darüber reden, auch weil wir bemerken: 30 Jahre reichen nicht aus, um sich anzugleichen. Noch immer werden Unterschiede sichtbar. Das ist zum einen in Ordnung, da es auch unterschiedliche politische, gesellschaftliche und historische Entwicklungen gab. Zum anderen sollten wir weiterhin daran arbeiten, vermeidbare Unterschiede wie Gehalt, Berufschancen oder Perspektiven aus dem Weg zu schaffen. 

Was ist eure Leerstelle? 

(Luise)

Vielen Dank an den Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplar. Dies hat mich weder in meiner Meinung, noch in meiner Beurteilung beeinflusst. 

3 Gedanken zu “Die DDR, eine Leerstelle?: Buchbesprechung zu „Nachwendekinder“ von Johannes Nichelmann”

    1. Dann könnte es dich sogar noch mehr berühren. Ich bin Jahrgang 88, zwar noch dort geboren, kann mich aber an eher nichts mehr erinnern…

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