Daniel Schreibers Essays sind dafür bekannt, dass er sehr persönliche Erfahrungen beschreibt und diese mit philosophisch, soziologischen Gedanken untermauert. In der Vergangenheit haben wir bereits Bücher von Daniel Schreiber auf unserem Blog vorgestellt.
Aline machte den Anfang mit „Allein“, ein Essay, in dem Daniel Schreiber das Spannungsverhältnis ergründet, zwischen dem Wunsch nach Rückzug, Zeit für sich und Freiheit, aber auch nach Nähe und Gemeinschaft. Aline ist allerdings mit dem Schreibstil von Daniel Schreiber nicht warm geworden.
Ich habe mein Glück mit „Zuhause“ versucht und war wiederum angetan. Er beschreibt für mich bildhaft, wie vielschichtig der Begriff bzw. das Phänomen Zuhause ist: Denn für manche ist es ein bestimmter Ort, für andere eher ein unbestimmtes Gefühl, das sie mit ‚Zuhause‘, aber auch mit ‚Heimat‘ und ‚Herkunft‘ verbinden. Immer wieder von Neuem sucht Schreiber nach seinem ganz persönlichen Heimatort und Zuhausegefühl. Mich überzeugt er mit einem persönlichen Zugang, in dem er tief in sein Leben blicken lässt, was ihm bei „Die Zeit der Verluste“ erneut gelingt.
„Die Zeit der Verluste“ von Daniel Schreiber
erschienen bei Hanser Berlin, November 2023 – Rezensionsexemplar
Sein neustes Buch thematisiert ein Gefühl, vor dem nahezu jede:r Angst verspürt und es gleichzeitig bereits erlebt hat, sei es nach einer Trennung oder weil Wege zu einst Vertrauten auseinander gedriftet sind. Vor allem aber der Tod und die häufig dazugehörende tiefe Trauer können zu einem dauerhaften Verlustgefühl führen – gerade wenn diese Personen auch ein Zuhausegefühl in einem auslösen, wie etwas häufig bei den eigenen Eltern.
Daniel Schreiber beschreibt, wie es ihm nach dem Tod seines Vaters erging und wie er mit dem Verlust umgegangen ist, aber zeitweise das Gefühl auch verdrängt hat. Ein schönes, bildhaftes Stilmittel ist dabei, dass er das Buch von Venedig aus schreibt, eine Stadt, die für ihn gleichzeitig ein Sinnbild von Vergänglichkeit bildet. Der schwimmende Untergrund macht die Stadt buchstäblich fluide, schwer greifbar, sonderbar. Und durch den Klimawandel droht auch ihr Verschwinden.
„Man hat in dieser Stadt häufig das Gefühl, sie sei kein realer Ort, weil überall Wasser ist, weil alles, was man von Städten sonst kennt, fehlt, die Straßen, die Verkehrsmittel, die Bürgersteige (…)“ So ist Daniel Schreiber dort seinem Verlustgefühl und der Trauer nah. „Die Wellen der Trauer treffen mich hier mit größerer Wucht, nehmen mich mit ans Meer.“
Besonders interessant fand ich, welche Methoden er zur Vergangenheitsbewältigung nutzt, beispielweise Yoga und Meditation, um im Hier und Jetzt zu sein und die Trauer auszuhalten. Aber auch der Zugang zur Kunst ist für ihn Therapie, da er sich in ihr verlieren kann. Doch hätte ich mir dahingehend auch mehr Bezüge zur Kunst gewünscht sowie mehr Tiefe bei der Ausführung dieser Gedanken, die manchmal unfertig wirkten. So auch, wenn er beschreibt, wie seine Eltern mit dem bevorstehenden Tod umgegangen sind, als sie von der unheilbaren Krebsdiagnose des Vaters erfuhren: eine berührende Szene.
Vielleicht sollte es jeweils die Möglichkeit geben, dass Leser:innen, die einen ähnlichen Verlust erfahren haben, ihren eigenen Zugang zur Trauerbewältigung finden. Als sollten sie die Gedanken für sich zu Ende bringen. Hierbei habe ich gemerkt, dass ich selber (glücklicherweise) schon lange keinen tiefergehenden Verlust mehr erfahren habe. Daher habe ich bei „Die Zeit der Verluste“ nicht ganz die emotionale Verbundenheit verspürt, wie etwa beim Lesen des Essays „Zuhause“. Aber ich könnte mir vorstellen, dass ich es noch einmal zur Hand nehme, wenn es die Lebenssituation erfordert.
Fazit
Die Essays von Daniel Schreiber sind Bücher, die ich gerne verschenke und zwar an Personen, zu deren Lebenssituation die jeweiligen thematischen Bücher passen. So könnte „Die Zeit der Verluste“ Menschen helfen, die Verlust erfahren haben, aber mit einem gewissen Abstand und gleichzeitig nah genug, um die persönlichen Empfindungen nachfühlen zu können. Das Buch kann eine textuelle Umarmung sein.
Durch den Ansatz, persönliche Erfahrungen mit Thesen aus der Soziologie, Philosophie und Psychologie zu untermauern, sind Daniel Schreibers Essays allerdings selten leichte Kost, man muss sie konzentriert lesen. Gleichzeitig scheint er aber immer wieder richtige Worte zu finden.
Danke an den Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars!