Spannend. Weiterlesen. Nicht Spannend. Abbrechen. Spannend. Weiterlesen – Berg- oder Talfahrt?: Mit dieser Frage bin ich während meiner Lektüre von „Die Hochhausspringerin“ konfrontiert gewesen. Dabei hatte ich mich wirklich sehr auf die Dystopie gefreut, ich hatte somit auch einige Erwartungen. Es wurde eine kleine Achterbahnfahrt der Gefühle, zwischen: Wird der Roman einen Höhenflug erleben oder doch leider eher eine Talfahrt für mich sein? Welche Frage sich dazu anschließt, ist, wie viel Aufwärmzeit gebe ich einem Roman?
Eins muss ich dem Roman nämlich lassen: Nach der Hälfte der Seiten habe ich mich wie die Hochhausspringerin im Roman gefühlt, nach einem langen freien Fall, in dem kaum etwas passierte, gab es eine plötzliche Wendung! Ein Höhenflug, endlich! Wie die Hochhausspringer, die zum Ende hin wieder in die Höhe schnellen, nimmt auch der Roman letztendlich Fahrt auf. Und obwohl er letztendlich komplett anders ist, als ich ihn mir vorgestellt habe, konnte er mich noch mitnehmen.
Die Hochhausspringerin von Julia von Lucadou
Erschienen bei S. Fischer-Verlage, Januar 2018; Zum Buch auf der Verlagsseite
Inhalt
Riva ist Hochhausspringerin, ein Leistungssport mit einer großen Fangemeinde. Die Fans verfolgen all ihre Schritte und Interviews via Social-Media-Kanäle. Sie ist ein absoluter Star. Solange Riva funktioniert, sind auch die Sponsoren auf ihrer Seite. Sie genießt besondere Privilegien wie eine Wohnung in der Stadt. Doch als sie plötzlich nicht mehr zu den Trainings erscheint und auch nicht mehr an Wettkämpfen teilnehmen, eigentlich gar nicht mehr springen möchte, drohen die Sponsoren mit Auflagen. Sie wollen die Credits minimieren, das Bezahlungssystem der vorherrschenden Gesellschaft – bei steigender Leistung sowohl geistig als auch körperlich, mehr Credits – sie aus der Stadt in die Peripherien ausweisen – Peripherien sind Gegenden, in denen es schmutzig ist und vor allem Perspektivlosigkeit herrscht.
Hitomi, eine weitere Großstädterin und Psychologin mit glänzenden Karriereaussichten soll Riva durch Sicherheitskameras beobachten und wieder auf die richtige Spuren lenken. Riva weiß nichts von den Kameras und Hitomi nichts von der Sturheit ihrer Patientin. Beide werden spüren, wie das System agiert, wenn man nicht mehr funktioniert beziehungsweise nicht mehr funktionieren will. Eine Welt, in der Leistung im Vordergrund steht. Eine Welt, in der Eltern ihre Kinder sogar direkt nach der Geburt in Leistungszentren abgeben, damit ihre Kinder aus den Peripherien in die Stadt ziehen. Sie sollen so mehr Leistungen erzielen und Karriere machen können.
Kritik
Was wenn man die geforderten Leistungen nicht mehr erbringt? Eine Welt, in der alles gut ist, so lange man funktioniert; so lang man sowohl psychisch als auch körperlich fit ist und der Gesellschaft dient. Eine Welt, die so oder ähnlich auch in der realen Welt realisierbar wäre. Davon berichtet Julia von Lucadou eindringlich.
Diese Dystopie hat dahingehend eine unglaublich spannende und brisante Thematik zur Grundlage, weshalb sie mich unmittelbar angesprochen hatte. Jedoch hat es lange gebraucht, bis die Geschichte für mich in Gang kam. Zu viele Dialoge, zu viele Abläufe wiederholten sich. Hitomi beobachtet Riva. Hitomi beobachtet den Freund von Riva. Hitomi wird von ihrem Chef beobachtet, ob sie Riva ausreichend beobachtet. Alle wollen Leistungen erbringen. Alle sind darauf bedacht, perfekt zu sein: dass sie genug Schlaf bekommen, Achtsamkeitsübungen zur Entspannung ausführen oder die richtigen Dating-Regeln im Sinne der Dating-App befolgen. Alle wollen vor allem, dass Riva wieder Leistungen erbringt. Aber sie verbringt ausschließlich ihre Zeit in der Wohnung mit Grübeln und Alkohol trinken. Diese Abläufe werden über Seiten hinweg besprochen, ohne tiefergehend auf das herrschende Gesellschaftssystem einzugehen.
Ich war leider kurz drauf und dran abzubrechen, über 150 Seiten brauchte es, bis ich schließlich in den Bann der Geschichte gezogen werden sollte. Die dystopische Welt mit ihren Konsequenzen nahm Gestalt an, die Lücken des Systems wurden endlich sichtbar: Die Lücken im System, wenn man Leistungen nicht mehr erbringen kann oder will. Plötzlich ist man nicht mehr auf dem Höhenflug seiner Karriere, sondern eher auf der Talfahrt, was vor allem bei einer Hochhausspringerin fatal ist.
Mich erinnert das Buch an eine Folge von der Serie „Black Mirror“ auf Netflix. Solang man sich an gesellschaftliche Gepflogenheiten hält, gewinnt man Credits und soziale Anerkennung, steigt auf, kann sich Wohlstand leisten. Sobald jedoch das Schicksal mit einem Katz und Maus spielt, fällt man in ein tiefes Loch. Auch in unserer Welt müssen wir bereits achtgeben, dass Apps und digitale Transparenz nicht dazu führen, dass wir uns nur noch daran orientieren und daran bemessen, ob jemand sozial angesehen ist. Je mehr Follower desto angesehener quasi.
Ich bin froh, das Buch letztendlich doch beendet zu haben, auch wenn die Geschichte speziell bleibt. Hochhausspringen als Leistungssport klingt gleichermaßen skurril, aber zeigt als Sinnbild, was es bedeutet, aufzusteigen, zu fliegen, aber auch ins Bodenlose zu fallen.
Fazit
Hier möchte ich noch einmal die Eingangsfrage aufgreifen: Wie viel Zeit sollte man Büchern geben? Wann sollte man noch dranbleiben, weil es eine überraschende Wendung geben könnte, wann ist es in Ordnung, abzubrechen? Da ich das Buch geliehen bekommen habe, wollte ich nicht so schnell aufgeben. Ich finde aber auch nicht, dass man spätestens nach einer bestimmten Seitenzahl erkennen kann, ob einem das Buch gefallen oder nicht gefallen wird – auch wenn ich meist nach 100 Seiten oder allerspätestens nach der Hälfte eine Art magische Grenze sehe. Nur finde ich auch schade, wenn Bücher sich zu lange Zeit geben. Ein Spannungsbogen ist wichtig für viele Leser*innen, um dranbleiben zu können. Die Wendung kam meines Erachtens bei der Hochhausspringerin etwas spät, aber wie sagt man so schön? Besser später als nie!
Brecht ihr auch mal Romane ab? Und falls ja, setzt ihr euch ein bestimmtes Seitenlimit oder entscheidet ihr nach Gefühl?
Im April 2021 erscheint der Roman als Taschenbuch.