Neujahrsgeflüster – Ein Leserückblick auf den Dezember und Januar 22/23

Wir hoffen, dass ihr gut ins neue Jahr gestartet seid und es der Januar es gut mit euch meinte! Da wir euch sowohl in der Vorweihnachtszeit mit Geschenk- und Buchtipps als auch zum Ende des Jahres mit unseren Jahreshighlights versorgen wollten, dachten wir, überfordern wir euch mal nicht mit Leserückblicken. Deshalb fassen wir nun einmal den Dezember 2022 und den Januar 2023 zusammen.

Leserückblick Dezember 2022


„Altes Land“ und „Mittagsstunde“ von Dörte Hansen (Luise)

Beide Taschenbücher sind bei Penguin / Random House erschienen.

2022 war definitiv mein Dörte-Hansen-Jahr. Als sowohl „Altes Land“ im Ohnsorg Theater aufgeführt wurde und Mittagsstunde mit meinem Lieblingsschauspieler Charly Hübner im Kino lief, war klar: Es wird endlich Zeit für die beliebten Familienromane mit Nordluft-Setting.

„Altes Land“ ist ein kurzweiliger und gleichzeitig kluger Roman. Eine traurige, ernsthafte, aber vor allem auch sehr unterhaltsame Geschichte mit nordischem Lokalkolorit, aber ohne großen Kitsch. Als Vertriebene, als sogenanntes „Polackenkind“ kommt die fünfjährige Vera auf einen Hof im Alten Land, wohin sie 1945 aus Ostpreußen mit ihrer Mutter geflohen ist. Ihr Leben lang fühlt sie sich fremd in dem großen, kalten Bauernhaus und kann trotzdem nicht davon lassen. „Dit Hus is mien un doch nich mien“, so steht es über der Tür. Ähnlich ergeht es ihr mit dem Alten Land, sie bleibt dort immer die Fremdartige, die aber jede:r kennt. Und sie kennt jeden. Jahre später steht plötzlich ihre Nichte Anne vor der Tür. Sie ist mit ihrem kleinen Sohn aus Hamburg-Ottensen geflüchtet, wo ehrgeizige Eltern ihre Kinder als Projekte betrachten und alles auf vernünftig aufgeklärten Entscheidungen basiert, selbst nach einer schmerzvollen Trennung. „Anstatt die Nebenbuhlerin auszuspielen, gibt es eine sachliche Aussprache. Neue Liebe heißt weiterentwickeln. Man wurde nicht handgreiflich, wenn eine der zivilisierten, wohltemperierten Beziehungen in Hamburg-Ottensen beendet wurde.“

Als das Buch neu erschienen ist, habe ich in einem Buchladen in Berlin ausgeholfen. Dort habe ich den Roman immer wieder über die Ladentheke gehen sehen und mit ihm geliebäugelt. Allerdings bin ich froh, dass ich unbewusst gewartet habe, bis ich selbst in Hamburg, nahe des Szeneviertels Ottensen, wohne. Als ich selbst bereits das Alte Land besucht habe –und wie in dem Buch beschrieben – es als einen idealen Zufluchtsort aus der großen Stadt sehe.

Anschließend schlug ich „Mittagsstunde“ in unserem Lesezirkel vor.
„Die Wolken hängen schwer über der Geest“ Ingwer Feddersen, Dozent an der Uni Köln, entschließt sich zu einem Sabbatical, um in sein nordfriesisches Heimatdorf zurückzukehren und Care-Arbeit zu leisten, er fühlt sich verpflichtet: Großmutter Ella ist dabei, ihren Verstand zu verlieren, Großvater Sönke hält in seinem alten Gasthof stur die Stellung. Und seine Großeltern haben Ingwer immerhin treu unterstützt und er ist und bleibt ein nordischer Jung vom Dorf, auch wenn es die beste Zeit hinter sich hat. Außerdem ist es an der Zeit, nicht mehr vor sich und der Vergangenheit wegzurennen.

Mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen wieder von der besonderen Atmosphäre, auf dem norddeutschen Land aufzuwachsen, wo die Leute rauer und keine Zeit für emotionale Überschwänglichkeiten zu haben scheinen. (Außer für die Mittagsstunde, in der es ruhig wird auf dem Dorf, findet sich immer Zeit). Gleichzeitig besteht eine besondere Loyalität unter den Dorfbewohner:innen. Wer dazu gehört, darf durch jede Hintertür ins Haus kommen, bekommt Unterstützung.

Doch wann begannen diese Welt zu verschwinden? Als die großen Höfe wuchsen und die kleinen starben? Dörte Hansen gelingt es wieder, mich mitzunehmen in eine gefühlt andere Welt, diesmal nach Nordfriesland der 70er Jahre und heute.

Hansen erzählt jeweils vom Verschwinden einer bäuerlichen Welt, von Verlust, Abschied und von Liebe, wenn auch diese häufiger rau als stürmisch daherkommt. Man spürt dabei den stürmischen Wind des Nordens wehen, während man beim Lesen all die skurrilen Charaktere der Dörfer kennen und liebgewinnen lernt. Vor allem habe ich jeweils nicht solch berührende Geschichten erwartet, die von Einzelgängern erzählen, die zwar zum Teil unterschiedlicher nicht sein können und dennoch irgendwie alle das gleiche suchen, eine Familie und Geborgenheit.

„NIU“ von Kathrin Werner (Aline)

Erschienen März 2022 bei Hoffmann und Campe

Die Anwältin Carmen, die von allen nur C. genannt werden will und ihr Mann Thomas, der in einem Start-up einen neuen Job anfängt, gehen den großen Schritt und ziehen nach New York. C. hat die amerikanische Staatsbürgerschaft und so heiraten die beiden kurz vorher eher aus Zweck, aber doch auch ein bisschen aus Liebe. Die Liebe scheint aber in Deutschland zurückgeblieben zu sein, denn so richtig kommen die beiden als Paar nicht in der neuen Stadt an. Bis sie unabhängig voneinander Niu kennenlernen. Die ist auf einmal überall. Im Coffee Shop, in der U-Bahn und an der Brooklyn Bridge. Wie wahrscheinlich ist es, in einer Millionenmetropole wie New York einer Person immer und immer wieder zu begegnen? C. und Thomas passiert es in jedem Fall immer und immer wieder und werden so in Nius Bann gezogen. Schleichend beginnen sie durch die Begegnungen und dem, was sonst so passiert, ihr bisheriges Leben zu hinterfragen. C. verschweigt Thomas eine Entscheidung, die sie für sich getroffen hat, gibt ihren Job auf und küsst Niu. Thomas wird gekündigt, muss die Scheidung seiner Eltern verarbeiten und verliebt sich in Niu. Immer wieder ist da Niu, die die beiden scheinbar voneinander trennt, in dieser schnelllebigen Zeit in einer Großstadt wie New York. C. und Thomas hören auf, miteinander zu kommunizieren und verlieren sich dabei selbst und als Paar. Ob die beiden wieder zueinanderfinden, erzählt der Roman sehr feinspurig. Dabei nimmt Kathrin Werner in ihrem Debütroman klassische Rollenbilder und das Verständnis von Familie auseinander und setzt es neu zusammen. Die Figur Niu kommt wie ein Geist daher, der in den Straßen schwebt und bei dem man sich wünscht, das er bald wieder auftaucht, denn die Anziehungskraft ist auch in die Zeilen übertragen. Trotz der Tiefe hat der Roman mich stellenweise nicht festhalten können, doch hallt das große Ganze das Motiv des Romans immer noch nach.


„Die Stimme meiner Mutter“ von Eva Baronsky (Aline)

Erschienen August 2021 im Ecco Verlag

Aristoteles Onassis sammelte Frauen wie Trophäen, je berühmter desto besser. Eine seiner Eroberungen war anders, denn sie war nicht auf sein Geld und Standing in der Welt aus, sondern sie liebte seine Seele, seinen Charakter und Charme. Geld war für Maria Callas Nebensache. Als wohl berühmteste Opernsängerin ist sie in die Geschichte eingegangen und als ihre Karriere beinahe zu Ende erschien, lernte sie 1959 den griechischen Milliardär Aristoteles Onassis auf einer Kreuzfahrt kennen und verliebte sich das erste Mal in ihrem Leben. Auf der Jacht „Christina“ sammelte sich alles, was Rang und Namen hatte, selbst Winston Churchill war dabei und beobachtete, wie diese Liebesgeschichte ihren Anfang nahm. Der Skandal ist vorprogrammiert, denn die beiden sind mit ihren Ehepartnern an Board, doch davon unbeeindruckt, verbringen sie die Nächte miteinander. Eine Liebe, die von einem Sohn gekrönt wird. Und spätestens hier beginnt die Fiktion des Romans. Denn ob die beiden ein gemeinsames Kind hatten oder nicht, darüber streiten sich die Boulevard-Blätter. Dass es eine Beziehung zwischen den beiden gegeben haben soll, könnte wahr sein. Eva Baronsky verleiht Omero, dem Kind, eine Stimme und lässt ihn die Geschichte seiner Eltern erzählen. „Die Stimme meiner Mutter“ ist damit zwar ein fiktiver Roman, der sich aber eng an die biografische Erzählung der Figuren halten soll. Was dabei wirklich passiert oder nicht passiert ist, entspringt wohl der Fantasie der Autorin. Beim Lesen muss man sich von dem Gedanken lösen, eine Biografie zu lesen, ansonsten würde man die Idee bekommen, einen effekthascherischen Enthüllungsroman in der Hand zu halten, was ich der Autorin nicht unterstellen mag. Ich denke, sie wollte sich einer Frau nähern, die für viele verschlossen war und blieb. Was an der Geschichte wahr ist oder nicht, sei dahin gestellt. Was bleibt, ist der Gedanke, dass Maria Callas eine Frau war, die liebte und geliebt wurde, die ein selbstbestimmtes Leben zu Zeiten in den das für eine Frau schwierig war führte und die in erste Linie ein Mensch war, der gerne zurückgezogen lebte. Damit bricht die harte Schale einer als Diva betitelten Frau auf.

Happy New Year: Leserückblick Januar 2023

Kochbuch-Tipp zum Veganuary „Vegan durch den Tag“ von Zucker & Jahgdwurst

„Vegan durch den Tag“ von Zucker & Jagdwurst (Luise)

Erschienen im November 2022 bei Zucker & Jagdwurst

Der Januar ist gerne auch mal da, um sich an neue Vorsätze zu wagen. Und so ist passend zum Veganuary auch ein veganes Kochbuch unter unseren vorgestellten Büchern über den Jahreswechsel dabei gewesen. Obwohl es mir zugegebenermaßen noch schwerfällt, mich über einen längeren Zeitraum vegan zu ernähren, weil ich vor allem noch nicht den richtigen Käse für mich gefunden habe: so habe ich diesen Januar auf jeden Fall experimentiert und mich an neue vegane Gerichte gewagt. Insgesamt sind die Rezepte leicht nachzukochen und sie schmecken von den beiden Blogger:innen eigentlich immer, wirklich! So habe ich mich bereits durch ein paar Rezepte probiert von Nudeln mit Erbsen-Basilikum-Pesto, gefüllten Muschelnudeln mit Spinatfüllung bis hinzu den veganen Kohlrouladen, ein wunderbares Festessen-Rezept, das sich auch für Vegetarier:innen und Flexitarier:innen eignet.


„Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee (Aline)

Erstmals erschienen 1960, in Deutschland bei Rowohlt

Das Jahr beginnt für mich direkt mit einem echten Klassiker: Harper Lees „Wer die Nachtigall stört“. 1960 erschienen bleibt es lange der einzige veröffentlichte Roman der US-amerikanischen Autorin.

In der fiktiven Kleinstadt Maycomb lebt der Rechtsanwalt Atticus Finch mit seinen Kindern Jem und Scout. Behütet wachsen die beiden in den 1930er-Jahren im tiefen Süden der USA auf, bis eines schönen Sommertages, der Rassenhass über die Familie hereinbricht. Atticus wird beauftragt, die Verteidigung des jungen Afroamerikaners Tom Robinson zu übernehmen, der die 19-jährige weiße Mayella Ewell vergewaltigt haben soll. Zur Gerichtsverhandlung erscheinen nahezu alle Bewohner:innen der Kleinstadt und die mehrheitliche Meinung der weißen Bewohner könnte nicht klarer sein: Tom Robinson ist schuldig, weil er schwarz ist. Atticus hingegen glaubt an die Unschuld seines Klienten und vermittelt seinen Kindern darüber hinaus Verständnis und Toleranz, allen Anfeindungen und Angriffen der Bewohner zum Trotz. Dieses Verständnis und die Toleranz gegenüber allen Mitmenschen – egal welche Hautfarbe – was den meisten (weißen) Einwohner der Kleinstadt fehlt, sind es wohl auch, was den Roman vermutlich immer noch tagesaktuell macht. Ohne Vorurteile und Angst geht Atticus Finch in dem Roman durchs Leben, bleibt ruhig und besonnen, auch wenn ein Sturm über ihn hereinbricht. Damit skizziert Harper Lee eine möglicherweise ideale Vaterfigur, zumindest aber einen Mann, der an das „Gute“ im Menschen glaubt und dieses an seine Kinder zu vermitteln versucht. Aus der Sicht der 8-Jährigen Scout wird die Geschichte erzählt, die aus heutiger Sicht sicherlich Motive und Inhalte enthält, die zu kritisieren sind. Zum Beispiel der häufige Gebrauch des N-Worts oder die Darstellung des männlichen Anwalts als Retter. Nichtsdestotrotz ist es ein gesellschaftskritisches Buch, welches zum Nachdenken und Umdenken anregen sollte und in seinem übergeordneten Motiv, den Rassenhass, kaum an Aktualität eingebüßt hat. Habt ihr „Wer die Nachtigall stört“ schon gelesen? 


„Tea-Bag“ von Henning Mankell (Aline)

Erschienen als Taschenbuch bei dtv, diese Ausgabe 2005

Das Leben des erfolgreichen Lyrikers Jesper Humlin erscheint fremdbestimmt. Da ist sein Verleger, der ihn zwingen will, einen Kriminalroman zu schreiben, da sich diese besser verkaufen lassen als Prosa. Da ist sein Finanzberater, der sein Erspartes falsch angelegt hat, aber Jasper die Schuld dafür gibt. Seine Freundin Andrea, die sehr eifersüchtig ist, ein Kind von ihm will, ständig Streit vom Zaun bricht und dann damit droht, ein Buch über ihre Beziehung veröffentlichen. Seine nachtaktive Mutter hat ständig was an ihm auszusetzen und dann ist da noch Pelle Törnblom, ein alter Schulfreund, der ihn beinahe zwingt, einen Schreibkurs für geflüchtete in einem Göteborger Vorort zu geben. Nach der Hälfte des Romans überlege ich ernsthaft, das Buch zur Seite zu legen. So viel wie in Jespers Leben an Unglück zusammen kommt, kann man sich nicht ausdenken und wirkt auf mich zu unrealistisch. Wären da nicht Leyla, Tea-Bag und Tanja. Die drei bereichern durch ihre Geschichten den Roman. Erzählen von ihrer Flucht aus Afrika und der ehemaligen Sowjetunion. Oder der Unterdrückung, die Leyla durch ihre Familie in Schweden erlebt. Jesper versucht den dreien eine Stimme zu geben, versucht ihnen zu helfen, Fuß in Schweden zu fassen. Das macht er so unglücklich, dass ich mich als Leserin wieder wundere: Soll das so? Erzählt der Autor hier einen Kontrast zu den bewegenden Fluchtgeschichten und versucht ein Gegengewicht herzustellen? Ein Gegengewicht, welches es überhaupt nicht gebraucht hätte. Der Roman will den Anspruch, so mein Eindruck, haben, Geflüchteten eine Stimme zu geben. Das klappt gut, wird aber überlagert von einem Protagonisten und den ihm Nahestehenden, die ignorant wirken und damit vielleicht auch einen Spiegel der Gesellschaft abbilden sollen. Der Roman ist von 2001 – wie blickt Jesper wohl jetzt auf die Gesellschaft? Welche Gedanken würde der durch die Wallander-Reihe berühmt gewordene Autor Henning Mankell wohl heute auf Papier bringen?

„Die Herkunft der anderen“ von Toni Morrison (Luise)

Erschienen 2018 bei Rowohlt

Als ich vor einiger Zeit „Was fange ich bloß mit guten weißen Menschen an?“ las, bekam ich durch wertvolle Denkanstöße den Eindruck, in meiner weißen Blase als solche reflektiert, aber auch herausgeholt zu werden. „Dieses kleine Büchlein zwingt einen dazu, sich mit dem für einen selbst scheinbar fernen Thema, Rassismus, zu beschäftigen. (…) Wir haben nicht die Wahl weiß zu sein, vielmehr ist es ein Privileg. Dabei ist es so banal: jede Hautfarbe sollte ein Privileg sein. Aber die Realität ist meist noch eine andere“ . Nachdem mir Brit Bennett also einen guten ersten Überblick über die Debatte bot, wollte ich nun in die Tiefe gehen – die von mir geschätzte Autorin und einst Literaturnobelpreisträgerin Toni Morisson würde mir sicher einiges über Rassismus als Diskurs innerhalb der Literatur in „Die Herkunft der anderen“ verraten können. Und auch hier habe ich wichtige Anregungen mitbekommen, als dass lange Zeit Rassismus in der Literatur romantisiert wurde, z.B. in Klassikern wie Onkel Toms Hütte. Überhaupt bietet die Autorin allein in den Ausschnitten ihrer Vorlesungen einen wissenschaftlichen Abriss über Rassismus in amerikanischer Literatur im Besonderen, aber auch in der Literatur-Szene im Allgemeinen. „Die Definition, was es bedeutet amerikanisch zu sein, bleibt für viele trauriger Weise ein Frage der Farbe.“ Jedoch fiel es mir trotz der wenigen Seiten, 112, letztendlich schwer dranzubleiben und den definitiv wichtigen Thesen und konstruktiven Argumenten von Morrison zu folgen. Sicher lag es vor allem auch daran, dass ich mehr populärwissenschaftliche Texte erwartet habe und vielleicht, weil ich um den Jahreswechsel nicht immer in Stimmung war für komplexe wissenschaftliche Theorien. Aber genau das würde ich Interessierten auf den Weg geben – wer mehr einen ersten Abriss wünscht, dem empfehle ich Bennetts Streitschrift. Für diejenigen, die sich mit der Debatte auskennen und gerade eine wissenschaftliche Herangehensweise suchen, denen sei Toni Morisson ans Herz gelegt.

„Das Herz ist ein einsamer Jäger“ von Carson Mc Cullers

Erschienen Dezember 2012 im Diogenes Verlag

„Das Herz ist ein einsamer Jäger“, was für ein schöner Titel, der mir direkt eine geheimnisvolle und in sich ruhende Stimmung vermittelt. Die Autorin Carson McCullers versammelt in diesem erstmalig 1940 erschienenen Roman rund um den Gehörlosen John Singer eine Scharr an Sonderlingen und Außenseiter. Da wäre zum Beispiel Mick Kelly, die 12-Jährige komponiert in ihrem Kopf ganze Symphonien, Jack Blount, der den Idealen der Marxisten anhängt, der nachtaktive Wirt Biff Brannon und der farbige Arzt Benedict Copeland. Alle vier besuchen Singer regelmäßig, unterhalten sich mit ihm und fühlen sich von ihm verstanden. In der Gedankenwelt von Singer tauchen die vier hingegen wenig auf. Dort dreht sich alles um Spiros Antonapoulos, der ebenso wie Singer taubstumm ist und der Einzige, mit dem er sich auf seiner Sprache, der mit den Händen, unterhalten kann. Als dieser jedoch in eine Irrenanstalt eingeliefert wird, bleibt Singer alleine zurück. Einsamkeit ist es, die aus jeder Zeile, die McCullers geschrieben hat, durchscheint. Ein Hang von Melancholie mischt sich dann auch noch ein, wenn sich vor meinen Augen die vor Hitze flirrenden Straßen der Kleinstadt, irgendwo in den Südstaaten, aufbauen. Es sind die Protagonisten, die sich auf den Straßen begegnen, Zeit miteinander verbringen, aber am Ende doch einsam bleiben, dabei aber getrieben sind von einem Verlangen, in nicht alleine zu bleiben. Ganz nebenbei erfahren wir, wie es um die US-amerikanische Gesellschaft Ende der 1930er-Jahre bestellt ist und finden Gesellschafts- neben Rassenkritik. „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ hatte für mich zwischendurch seine Länge, doch unterm Strich hallt der Roman lange nach und hat womöglich an Aktualität nie verloren. Wie magisch hat mich das Buch in der Buchhandlung angezogen, möglicherweise lag es am Cover, am Titel oder an dem kleinen Zettel „Empfehlung von Frank Menden„. Danke in jedem Fall dafür! 

„Das Herz ist ein einsamer Jäger“

Aus der Rubrik „Über den Tellerrand“, unser Themenschwerpunkt 2023

Neues Jahr, neuer Themnschwerpunkt, auf den wir uns beide wirklich sehr freuen: „Über den Tellerrand“. Wir wollen einmal öfter ein Buch in die Hand zu nehmen, das wir sonst nicht lesen würden, sei es ein für uns unüblicheres Genre, Gattung oder mit einer Meinung außerhalb unserer gesellschaftlichen Blase. Zum Auftakt unseres neuen Schwerpunkts werden wir diesen Monat beide mit zwei Büchern beginnen, die wir über den Jahreswechsel gelesen haben und uns direkt an unseren neuen Schwerpunkt haben denken lassen.


„So nah – Sehnsucht in 26 Miniaturen“ von Robert Segel (Luise)

Erschienen Herbst 2022, Selfpublishing

Miniaturen: das sind besonders kurze Kurzgeschichten, die zum Teil fragmenthaft bleiben, als wären es eher kleine unfertige Gedankenspiele. Die Miniaturen in „So nah“ scheinen dabei Alltägliches aufzugreifen und dabei sich tatsächlich ganz in der Nähe des eigenen Lebens zu tummeln. Gleichzeitig schweift der Autor in die Ferne, in unbekannte Länder oder in für einen fremde Lebenskonzepte. So fühlte ich mich beim Lesen zum einen in meinen eigenen Gedanken des alltäglichen Lebens bestätigt, war aber auch mal „gezwungen“ in für mich andere Gedankenwelten zu blicken, über den Tellerrand eben! Diese Gedanken werden durch ausdrucksstarke Fotos des Fotografen Benno Wagner untermalt und eigene Gedanken begleitet. Den ausführlichen Blogbeitrag findet ihr hier.

„Ein Haus voller Wände“ von Fréderic Valin (Aline)

Erschienen Herbst 2002 im Verbrecher Verlag

Das Buch von Frédéric Valin „Ein Haus voller Wände“ lässt sich nicht in eine Kategorie stecken. Nur ganz klein ganz am Anfang steht das Wörtchen Roman. Damit ähnelt es wohl vielleicht auch ein Stück weit den in dem Haus lebenden Bewohnern, über die der Autor schreibt. In eine Kategorie mag man sie nicht stecken, aber irgendein Label müssen sie ja dann doch bekommen, um in das Pflegesystem zu passen. Ihre Akten sind gefüllt mit „Trisomie 21“, „Impulskontrollstörung“ oder „leichte geistige Behinderung“. Der Autor Frédéric Valin stellt allerdings den Menschen und nicht die Diagnose in den Mittelpunkt. Als Leserin lerne ich nicht nur die Bewohnerinnen und Bewohner sowie den Pfleger Nikolas kennen, sondern erfahre auch etwas über die Mechanismen des Pflegesystems und über die historische Entwicklung der Pflege. Valin, der selber jahrelang in der Pflege gearbeitet hat, liefert mit seinem Buch einen für mich authentischen Bericht und lässt mich über den Tellerrand meiner eigenen Wahrnehmung, Gedanken und Wissensstände blicken. Den ausführlichen Blogbeitrag findet ihr hier.

Fazit

11 gelesene bzw. neu vorgestellte Bücher über den Jahreswechsel: Das schöne an der klirrend kalten Jahreszeit sind also definitiv die Lesestunden! Und auch wenn der eine oder die andere so langsam überdrüssig werden könnte, was die nassen Straßen und kalten Temperaturen betrifft, so können wir uns immerhin auf eines im Februar freuen.. Genau! Auf noch mehr Lesestunden im gemütlichen Lesesessel.

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