Zum Auftakt unseres neuen Themenschwerpunkts „Über den Tellerrand“ werden wir diesen Monat beide mit zwei Büchern beginnen, die wir über den Jahreswechsel gelesen haben und uns direkt an unseren neuen Schwerpunkt haben denken lassen. Luise hat mit „So nah – Sehnsucht in 26 Miniaturen“ den Auftakt gewagt und heute folgt mein Beitrag.
Diejenigen, die unseren den 1. Teil gelesen haben, wissen es bereits – unser diesjähriger Themenschwerpunkt heißt „Über den Tellerrand“, einmal öfter ein Buch in die Hand zu nehmen, das wir sonst nicht lesen würden – sei es ein für uns unüblicheres Genre, über ein Thema außerhalb unserer gesellschaftlichen Blase oder unser beliebtes Genre zeitgenössische Literatur mal anders.
„Ein Haus voller Wände“ von Frédéric Valin
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Das beim Verbrecher Verlag erschienene Buch von Frédéric Valin „Ein Haus voller Wände“ lässt sich nicht in eine Kategorie stecken. Ist es ein Sachbuch oder ein Roman? Ein Essay oder eine Erzählung? So ganz genau weiß man es nicht, nur klein ganz am Anfang steht das Wörtchen Roman. Damit ähnelt es wohl vielleicht auch ein Stück weit den im Haus lebenden über die der Autor schreibt. In eine Kategorie mag man sie nicht stecken, aber irgendein Label müssen sie ja dann doch bekommen, um in das Pflegesystem zu passen. Ihre Akten sind gefüllt mit „Trisomie 21“, „Impulskontrollstörung“ oder „leichte geistige Behinderung“. Ob man Peter, Karl, Barbara, Stefan und Johannes damit besser einordnen kann? Frédéric Valin stellt den Menschen und nicht die Diagnose in den Mittelpunkt seines Buchs und erzählt die Geschichte von Nikolas, der seit sieben Jahren auf einer Gruppe mit Menschen, die als geistig behindert gelten arbeitet. Als Leserin lerne ich nicht nur Nikolas und die Bewohnerinnen und Bewohner kennen, sondern erfahre auch etwas über die Menschen, die pflegen, über die Mechanismen des Pflegesystems und über die historische Entwicklung der Pflege. Nikolas sucht Orte auf, die der Opfer von Euthanasie der Nationalsozialisten gedenken sollen. Er beleuchtet Verfahren, die nach Optimierungsmaßnahmen suchen, um den Umfang der Betreuung festzustellen und formuliert so schöne Sätze wie „Dieses Heim ist einer dieser selten gewordenen Orte, an denen Schönheit nicht existiert“, Sätze, die zum Nachdenken anregen. Valin, der selber jahrelang in der Pflege gearbeitet hat, liefert mit seinem Buch einen für mich authentischen Bericht und lässt mich über den Tellerrand meiner eigenen Wahrnehmung, Gedanken und Wissensstände blicken.
Vielen Dank an den Verlag, für das zur Verfügung stellen des Rezensionsexemplar.
Fazit
Luise hat sich an eine neue Erzählform beziehungsweise Gattungsmix gewagt. Ich habe mich an einen Genremix, aber auch an einen Themenbereich gewagt, der mir bisher unbekannt war. Viele Leserinnen und Leser fühlen sich dort wohl, wo sie sich auskennen, so auch wir. Doch wenn wir über den Tellerrand hinausschauen, kann man viel entdecken: Neue Gattungen, neue Erzählformen, andere Kulturen oder auch besondere Leben. Wer schaut mit uns dieses Jahr über den Tellerrand?