Work, Work, Work: Buchbesprechung zu Julia Friedrichs „Working Class“

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Man ist schnell geneigt den Begriff ‚Working Class‘ mit Arbeiterklasse zu übersetzen. Das jedoch wollte die Autorin Julia Friedrichs bewusst umgehen, da sie den Bezug zu dem veralteten Bild des „rußverschmierten Kolekumpels“ vermeiden möchte. Mit Arbeiterklasse werden nämlich gerne vor allem Jobs wie der Fließbandarbeiter, Bauarbeiter oder Kohlekraftwerkarbeiter verbunden. Nur verschwimmen die Facetten heutzutage in unserer Informationsgesellschaft, da viele Arbeiterberufe auch qualifizierte Fachkräfte erfordern. Sie sind laut Friedrichs auch weiblicher und gehören häufiger der Dienstleistungsbranche an: „Die Working Class sieht anders aus als vor hundert Jahren. aber noch immer gilt: Es sind Menschen die arbeiten, um Geld zum Leben zu haben. […] Menschen für die gilt: Nettoeinkommen gleich Monatsbudget ohne Rücklagen-Netz und doppelten Familien-Vermögen-Boden“. Und davon fühlen sich sicher plötzlich viel mehr Menschen angesprochen als bei dem Begriff ‚Arbeiterklasse‘. Denn Menschen, die nur von ihrer Arbeit leben und kein nennenswertes Vermögen besitzen, dazu gehören in Deutschland ungefähr 50 % der Bevölkerung, sowohl diejenigen mit Haupt- oder Realabschluss als auch Akademiker mit Studium. (Julia Friedrichs dazu bei Deutschlandfunk Kultur).

„Working Class“ von Sozialreporterin Julia Friedrichs

Zur Autorin und Inhalt

Julia Friedrich ist deutsche Journalistin und Autorin. In einem Interview von Deutschlandfunk Nova wird sie als Sozialreporterin bezeichnet. Für ihre Reportage „Abgehängt – Leben in der Unterschicht“ wurde sie 2007 mit Axel Springer Preis für junge Journalisten und dem Ludwig-Erhard Förderpreis ausgezeichnet. Danach schrieb sie Bücher wie „Gestatten:Elite“, „Deutschland dritter Klasse“ oder „Wir Erben: Was Geld mit Menschen macht“. (Wikipedia-Artikel) Ihre Fokusthemen sind, wie ersichtlich wird, Soziale Gerechtigkeit und (un-) gerechte Vermögensverteilung. Darum geht auch in ihrem neuen Sachbuch.

Die Journalistin begleitet über ein Jahr lang Menschen aus der Kategorie ‚Working Class‘. Es wird vor allem ein besonderes Jahr. Sie beginnt mit ihren Recherchen und Interviews im Sommer 2019 und es endet im Herbst 2020. Die Corona-Pandemie wird so einiges fordern und auf den Kopf stellen bei den Betroffenen. Zum einen trifft sich Friedrich regelmäßig mit Sait, der einem klassischen Arbeiterberuf nachgeht als Reinigungskraft in U-Bahn-Höfen in Berlin und einen Migrationshintergrund hat. Für ihn wird während der Corona-Krise geklatscht. Er gehört zu einem systemrelevanten Beruf, der dennoch wenig Anerkennung genießt. Die Arbeitsbedingungen beim externen Reinigungsdienstleister entsprechen nicht den Standards der städtischen Verkehrsbetriebe wie z.B. freie Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. In den Jahren wurde das Arbeitspensum erhöht, das in weniger Zeit geschafft werden muss. Sait fühlt sich ungerecht behandelt, beginnt zu zweifeln und neigt dazu, Verschwörungstheorien zu glauben. Alexandra ist eine Akademikerin, ihr Studium hat sie mit Auszeichnung abgeschlossen. Sie ist freie Musiklehrerin ohne Festanstellung. Sie hat zwei Kinder und ein Haus, das abbezahlt werden muss. Kranken- und Urlaubstage werden nicht vergütet. Während der Pandemie werden zahlreiche Musikstunden ausfallen, unbezahlt natürlich. Einerseits ist Alexandra stolz auf ihren Sohn, der auch ein Musiktalent hat und seine Leidenschaft zum Beruf machen möchte. Aber sie hat Angst, dass es ihm genauso wie ihr gehen wird. Und Christian arbeitet bei einem wachsenden Marketingunternehmen im Bereich Marktforschung. Es ist eine solide Festanstellung und er fühlt sich in dem Team wohl. Als er jedoch einen Unfall hat, den er geradeso überlebt und weniger arbeiten kann, ändert sich auch das Arbeitsklima. Trotz Langzeitschäden soll er nach dem Unfall wieder Vollzeit arbeiten. In der Pandemiezeit wird er wiederum zum Teil bis zu 100% in Kurzarbeit geschickt, ohne Vorwarnung. Er merkt, was die Firma bezweckt: Sie will ihn loswerden.

Neben diesen drei Schicksalen besucht Julia Friedrichs als Nebenschauplatz in ihrem Kiez in Berlin regelmäßig die Kneipe „Zapfhahn“ im Karstadtgebäude an der Hermannstraße, ein Ort, an dem sich viele treffen, die der klassischen Arbeiterklasse angehören. Dort spricht sie auch mit dem ehemaligen Karstadtmitarbeiter Rüdiger, der Karstädter mit Leib und Seele ist, auch wenn die Hochzeiten der Achtzigerjahre – geprägt von Wohlstand und Konsumfreude – schon lange nicht mehr in seinem Großbetrieb zu spüren waren. 2020 wurde das Schließen mehrerer Karstadt-Filialen beschlossen, unter anderem, neben mehrere Filialen in Berlin, in Dessau in Sachsen-Anhalt.

Positive Kritik

Die Interviewpartner:innen von Friedrichs bilden ein breites Spektrum der sogenannten ‚Working Class‘ ab, weshalb das Buch sehr ansprechend veranschaulicht, wie viele Menschen eigentlich dazugehören. Es zeigt vor allem auch noch einmal durch die längere Zeitspanne, in der die Journalistin ihre Gesprächspartner:innen begleitet, welchen Bruch eine Krise, wie die der Corona-Pandemie, für eine Gruppe bedeuten kann, die ausschließlich von ihrer Arbeit lebt. Plötzliche Ausgaben oder fehlende Einnahmen können die Betroffenen nicht stemmen, da sie kein Vermögen anhäufen konnten, um solche Krisenzeiten zu überbrücken. Die Autorin stellt nicht nur die einzelnen Personen vor oder interviewt sie steif nach dem Frage-Antwort-Prinzip, sondern begleitet sie im Alltag und erzählt die Geschichten dahinter. Diese sind authentisch und Emotionen werden sichtbar. Man kann die Schicksale von Sait, Christian, Rüdiger oder Alexandra nachempfinden, vergleicht sich mitunter auch, sieht Parallelen.

Julia Friedrichs wird deren Biographien immer auch in den Kontext einordnen. Sie spricht mit Wissenschaftlern wie Vermögensforschern um zu verstehen, wie eine Schere zwischen Arm und Reich entsteht und wieso gerade in Deutschland mitunter eine Kluft dazwischen besteht; wieso Vermögende weiter Kapital anhäufen können, die Working Class aber wenig aufsteigt, vielmehr an der gleichen Stelle entlangtappt. Friedrichs vergleicht vor allem auch die Arbeitersituation in ihrer geschichtlichen Entwicklung, vor allem zwischen den Achtziger Jahren und heute. Denn die 1980er Jahre waren eine Zeit (in Westdeutschland), in der die Gesellschaft von Wohlstand, Konsum und Überfluss geprägt war. Sie konnten sich Sozialleistungen leisten, Weihnachtsgeld oder eine solide Rente waren oft selbstverständlich. Ein Vater konnte mit einem soliden Arbeitergalt seine ganze Familie als Alleinverdiener ernähren. Doch schnell wurde klar, das kann auf die Dauer nicht so weitergehen. In einer Sendeanstalt des öffentlich rechtlichen Fernsehens meinte man zu Friedrichs auf die Frage hin, wieso die Renten von vielen Redakteur:innen aus den Achtzigern so hoch sind: „Man habe das Ganze auf der Zeitschiene nicht durchgerechnet“ – das scheint laut Friedrich auch ein Symptom der Nachkriegsgeneration zu sein: „Rentenkasse? Klima? Staatsverschuldung? Aufstiegschancen? Wir haben das auf der Zeitschiene wohl nicht so durchgerechnet“. Wenn die Babyboomer der Mitte der Sechziger Jahre in Renten gehen werden, wird es noch einmal eine spannende gesellschaftliche Debatte geben. Sie leben länger als die Vorgängergeneration, haben aber weniger Kinder bekommen. Der immer währende Wunsch von Eltern, dass es ihre Kinder einmal besser haben sollen, also nun wir die Generation Y und Z, wird in der nahen Zukunft nicht möglich sein.

Dahingehend zeichnet die Autorin meiner Meinung nach ein treffendes Gesellschaftsbild und zeigt die Herausforderungen als Sozialstaat in unserer Zeit auf. Sie veranschaulicht ansprechend das Dilemma der Generationen im Wandel der Politik und Gesellschaft in Deutschland. Letzteres ist jedoch vor allem ein westdeutsch geprägtes Bild.

Julia Friedrichs „Working Class“, auch ohne Buchumschlag schick – Hier an einem klassischen Arbeiterort, der Baustelle

Negative Kritik

Und so muss ich nun zu den Schwachstellen des Buches kommen. Zum einen ist es wie gerade erwähnt eine vor allem westdeutsche Sichtweise auf die Entwicklungen der Arbeiterklasse von den Achtzigern bis heute. Auch wenn Julia Friedrichs als Beispiel für die aktuelle Krise von Galeria Karstadt Kaufhof eine Karstadt-Filiale aus Dessau nennt, die von dem Massenschließungen unvorhergesehen getroffen wird. Und sie auch andeutet, dass besonders im Osten viele klassische Arbeiter:innen leben und viele von denen einen klaren Bruch nach der Wende erlebt haben, ist es mir zu wenig, zu partiell. Ich hätte mir gewünscht, dass sie auch eine:n Interviewpartner:in wählt, die in der DDR aufgewachsen und ausgebildet wurde, um die Unterschiede heute, aber auch in der geschichtlichen Entwicklung zwischen Ost und West sichtbar zu machen. Gerade weil Friedrichs diese Perspektive als Kind der Achtziger Jahre in der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft nicht kennt.

Außerdem ist eine eher linkslastige Sichtweise, die mir persönlich häufig zu einseitig gewesen ist. Sicher weist die Autorin an vielen Stellen berechtigte Kritikpunkte in Bezug auf die Lücken unseres Sozialstaats auf und bietet auch ansprechende Lösungsansätze an wie einen staatlichen Sozialfonds für Kinder und Jugendliche aus sozialbenachteiligten Familien, wie es einmal in Großbritannien gab – und, als hätte Friedrichs es geahnt, nun in der EU als Unterstützung für die kommenden sieben Jahre geben soll: Beschluss eines Sozialfonds der Europäischen Union für sozialbenachteiligte Kinder und Jugendliche, Juni 2021. Die Lösungsansätze werden jedoch nicht ausreichend in ihrer Umsetzbarkeit geprüft. Eine deutlichere Erhöhung des Mindestlohns beschreibt die Autorin so beispielsweise als eine der Lösungen, damit die Working Class finanziell besser dastehe, ohne jedoch zu erklären, wie und wer es finanzieren soll. Es betrifft nun mal nicht nur Großunternehmen wie Karstadt, die den Mindestlohn zahlen müssen, sondern auch kleine Unternehmer:innen. Ferner wird die Reporterin am Ende des Buches Sozialdemokraten wie Wolfgang Schmidt, die rechte Hand von Olaf Scholz, interviewen. Sicher bezeichnen sich SPD-Abgeordnete als Vertreter:innen der Arbeiterklasse, aber warum lässt sie ausschließlich diese zu Wort kommen? Warum nicht auch mal einen CDU-Abgeordneten, also von der Partei, die genauso zur Regierung gehört und sogar stärkste Kraft bildet. Oder aus der Opposition wie eine:n FDP- oder Grünen-Abgeordnete:n oder von den Linken? Um sie zu fragen, wie sie es angehen und ihrer Ansicht nach besser machen würden.

Des Weiteren werden Zahlen und Fachbegriffe eingeworfen wie ‚bereinigte Inflationsrate‘ ohne sie genauer zu erklären und einzuordnen. Sicher hatte ich von den Begriffen schon gehört, musste sie aber dennoch nochmal nachschlagen, um alles umfassend verstehen zu können. Da die Quellenangaben nur in einem anschließenden Literaturverzeichnis aufgelistet und nicht im Fließtext vermerkt wurden, war es auch nicht immer gleich ersichtlich, wo man einzelne Aspekte vertiefter recherchieren kann. Genauso Statistiken oder Tabellen hätten die eine oder andere Position zudem verbildlicht, ihr ein Fundament gegeben.

Mehr Anschauungsmaterial, mehr Definitionen, mehr Objektivität hätte Julia Friedrichs umfassende Recherche untermauert. Es hätte neben der emotionalen Stärke des Buches auch eine stärker analytische Komponente verliehen.

Fazit

Anhand meiner langen Rede – meiner vielen Gedanken und einiger positiver, aber auch negativer Kritikpunkte – wird sicher folgender kurzer Sinn deutlich: Das Buch hat mich nachhaltig beschäftigt, mich aber auch etwas unschlüssig zurückgelassen. Die Thesen und Argumente von Julia Friedrichs finde ich spannend und von den Ansätzen her haben sie viel Potential, sie weiterführend zu diskutieren – auch wenn ich sie nicht allesamt teile. Aber deren Ausführungen sind mitunter ausbaufähig. Der eher linkliberalen Sicht der Journalistin hätte es meines Erachtens gut getan, auch eine unternehmerische und wirtschaftliche Sichtweise gegenüberzustellen. Ich hätte mir ein Heraustreten aus ihrer Blase gewünscht, anstatt ausschließlich Experten (übrigens keine Frau) zu interviewen, die ihre Ansicht und Perspektiven teilen. Es hätte das Buch noch überzeugender werden lassen können. Julia Friedrichs hätte dann ein umfassenderes, gesellschaftliches Bild gezeichnet und der Debatte über die Zukunft der Working Class, der Mehrheit der deutschen Gesellschaft, einen noch überzeugenderen Impuls geben können. Aber bei politischen Themen gehen die Meinungen bekanntlich gerne auseinander, also lest bitte gerne selbst dieses Buch!

„Ungleichland“ (WDR 2019), eine weiterführende Dokumentation an der Julia Fridrichs beteiligt war.

Vielen Dank an den Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars, welche mich in meiner Beurteilung nicht beeinflusst hat.

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