*Presseexemplare*
Ein Sachbuch über Berlin, das ich in der Vergangenheit einmal gelesen habe, nannte sich „An der Schönheit kann’s nicht liegen – Berlin. Portrait einer ewig unfertigen Stadt“ von Peter Schneider. Und vermutlich wird dem nahezu jede:r zustimmen: Berlin scheint im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen wie London, Paris oder Rom, was objektive Schönheit betrifft, nur bedingt mithalten zu können. Und dennoch ist diese Stadt so anziehend. Sie versprüht eine gewisse Leichtigkeit sowie Andersartigkeit. Was ihr meines Erachtens nach wiederum eine natürliche ‚Schönheit‘ verleiht.
Ich habe jüngst zwei Bücher gelesen, die beide Berlin als zentralen Schauplatz haben, einmal ein zeitgeschichtliches, das den Wandel der Stadt in ihrer Vergangenheit verdeutlicht und wie die Stadt gefühlt jede Krise durchsteht. Das zweite Buch zeigt das Berlin der Moderne, in dem deutlich wird, welchen besonderen Spirit Berlin auch heute versprüht, gerade in der kreativen Szene. Im Zusammenspiel wird meines Erachtens noch einmal sichtbar, woher die besondere Anziehung der Stadt Berlin kommen könnte.
„Spreemann & Co“ von Alice Berend
Die Berlin-Bibliothek au dem Jaron-Verlag, Neuauflage 2022, erstmals 1916 erschienen.
Besonders an dem Roman ist ganz sicher die Hintergrundgeschichte. So wurde das Buch erstmals 1916 veröffentlicht und wurde zu einem Bestseller. Die Romane der deutsch-jüdischen Autorin waren eine derjenigen Bücher, die 1933 bei der Bücherverbrennung des Nazi-Regimes vernichtet worden sind. Ihre Romane gerieten in Vergessenheit. Der Gedenktag wird sich dieses Jahr zum 90. Mal jähren. Der unabhängige Buchverlag aus Berlin hat es sich zur Aufgabe gemacht, Literatur aus und über Berlin sichtbar zu machen, die in Vergessenheit geraten sind. Eine Idee, die ich sehr gerne unterstütze. Deshalb schaut doch gerne mal bei der Berlin Bibliothek vorbei. (Im März erscheint neu „Volk ans Gewehr“).
Klaus Spreemann stapft in die Fußstapfen seines Vaters und gründet sein eigenes Stoffgeschäft, mitten in Berlin auf dem Donhöffplatz (Nähe Spittelmarkt). Was als kleiner Laden beginnt, entwickelt sich letztendlich zu einem der gefragtesten Kaufhäuser der Stadt. Dennoch ist es gar nicht so leicht, das Geschäft und die Familie durch die Wirren des Jahrhunderts zu lenken, geprägt von der deutschen Revolution 1848 oder auch später durch den deutsch-französischen Krieg, 1870-1871. Anschließend verleiht die Deutsche Reichsgründung einen neuen gesellschaftlichen Aufschwung, auch für die Familie Spreemann. Die Söhne folgen nun ihrem Vater und gründen gemeinsam das Kaufhaus „Spreemann & Co“. Die Mode wird noch erschwinglicher, anstatt des Prinzips der Einzelanfertigungen entwickelt sich Mode zu einem massentauglichen Phänomen. Die Familie übersteht einige Krisen, nicht zuletzt die beginnende Große Depression mit einem Konjunkturtief. Und Familie Spreemann bleibt vor allem dabei immer eines: ihrer Heimatstadt treu.
Bei dem Roman hatte ich tatsächlich erst so meine Schwierigkeiten, mich hineinzufinden. Immerhin wurde er bereits Anfang des 20. Jahrhunderts verfasst. Die Sprache ist entsprechend altertümlicher und auch die Rollenbilder erscheinen aus moderner Perspektive mehr als überholt. So heiratet Klaus Spreemann seine Dienstmagd Lieschen vor allem aus Pragmatismus. Zwar ist sie hübsch, gewissenhaft und ehrlich, aber auch eine Waise. So umgeht Klaus Spreemann wie sonst üblich, vorher bei einem Vater um die Hand anzuhalten.
Dennoch entpuppt sich die Geschichte zu einem angenehm konsumierbaren, unterhaltsamen Roman. Die Autorin zeigt ein authentisches Bild der wandelbaren Stadt Berlin, die gerade zu der Zeit auch aufstrebend wird und zu einer beachtlichen Großstadt heranwächst. Die Berliner:innen sind mit Stolz erfüllt. „Sein Geschäft, seine Söhne, sein Heim erfüllten ihn (Klaus) mit Kraft und Stolz. Und auch seine Vaterstadt.“ Gleichzeitig macht die Autorin klar, dass die Einwohner:innen der Stadt trotz des steigenden Patriotismus vor allem friedliche Zeiten bevorzugen (ein Merkmal des Buches, das womöglich neben der religiösen Herkunft der Autorin ein weiteren Grund für die Vernichtung des Buches bei der Bücherverbrennung bildete.) „Jedenfalls marschierte Spreemann, (…) in Reihe und Glied mit anderen Bürgern, die ebenso friedlich gesinnt waren wie er, die ebenso wie er direkt vom Schlafrock in den Waffenrock gerutscht und alle bedeutend geübter waren, eine Pfeife zu entzünden als ein Gewehr.“ Alice Berend selbst wurde 1875 geboren und damit mitten in diese wandelreiche Zeit des Landes und der Stadt, wobei sie bei den Beschreibungen sicher auch auf einige Zeitzeugen-Erzählungen ihrer eigenen Familie zurückgreifen konnte.
Nachdem wir durch „Spreemann & Co“ ein Bild des historischen Berlins gewonnen haben, in dem die Stadt zunehmend an Bedeutung gewann, zoomen wir nun in die Gegenwart. Denn „Die Perfektionen“ zeigt, dass Berlin heute auch weiterhin Bedeutung hat, denn es ist und bleibt anziehend.
„Die Perfektionen“ von Vincenzo Latrinco
Erschienen im Februar 2023, Claassen (Ullstein)
„Nicht immer entsprach die Wirklichkeit den Bildern. Sie taten es oft frühmorgens. Beim Erwachen machte ihnen der Anblick der durch die Vorhänge sickernden Lichtschlieren an der Wand gute Laune. (…) Das über Nacht aufgeladene Smartphone lag als leuchtendes Dreieck auf einem aufgeschlagenen, wenn auch staubbedeckten Buch. Sie checkten die Mails und die sozialen Medien im Bett (…) und wirkten wie ein Paar junger Freiberufler in Berlin, wie sie tatsächlich waren. Doch kaum setzten sie einen Fuß ins Wohnzimmer, verlor sich diese Gewissheit wie die gute Verbindung eines Handys außerhalb der Netztreichweite“.
„Die Perfektionen“ geht auf einen Umstand ein, der unlängst bekannt ist – auf Berlin als Sinnbild für einen ganz bestimmten Lifestyle: Altbauwohnung mit meterhohen Decken und Pflanzen als Dekoration, vorzugsweise die Zimmerpflanze Monstera. Am liebsten im Osten der Stadt, wo es auch viele kleine Cafés und Ateliers ums Eck gibt. Man arbeitet gerne entweder von zu Hause oder vom Café aus, immerhin ist man flexibel, gerade als Tech-Expert oder als Freischaffende in der Kultur- und Kreativszene. Berlin verleiht beim eignen Lebenskonzept ein Gefühl von Freiheit und Individualität, das letztendlich alles andere als individuell ist, entscheiden sich doch viele für ein ähnliches Lebensmodell. Instagram wird durchflutet von solchen Accounts und lädt zum Nachahmen ein. „Sonnenlicht ergießt sich durch das Erkerfenster ins Zimmer, färbt die löcherigen Blätter einer wolkengroßen Monstera smaragdgrün und spiegelt sich auf den Breiten honigfarbenen Holzdielen. Die Pflanzenstiele berühren die Rückenlehne eines skandinavischen Lehnstuhls (…)“
Der Blickwinkel des schmalen Büchleins ist insofern spannend, als dass das Buch von einem Italiener geschrieben ist und auch die Protagonisten aus Südeuropa stammen. So steht Berlin nicht nur in Deutschland für ein bestimmtes Lebensgefühl, sondern in ganz Europa, weshalb es mittlerweile alles andere als ein Geheimtipp ist, sondern aufgrund des Zustroms die Mietpreise und Lebenshaltungskosten in die Höhe schnellen. Doch merkt man kaum, wie man selbst dazu beiträgt, das eine Gentrifizierung entsteht. Anna und Tom werden in dem Buch aus einer Vogelperspektive beschrieben, man kommt ihnen nie zu nah. Konkrete Charakterzüge oder tiefergehende Emotionen bleiben aus – so als würden wir uns Bilder anschauen. Bilder die austauschbar scheinen, ein Stilmittel, das mir sehr gefallen hat. Man kann sich einerseits selbst hineinversetzen und gleichzeitig eine gewisse Distanz bewahren. So wirkt auch Berlin austauschbar. Das Paar zieht später nach Lissabon, es hätte wohl genauso auch nach Hamburg oder London ziehen können. Man verzeiht dem Buch das eine oder andere Klischee-Bild, da es eine sehr pointierte Beschreibung, nahezu ein Manifest, einer gesellschaftlichen Blase darstellt, die viel mehr im Mainstream angekommen ist, als die Beteiligten es wahr haben möchten. So habe auch ich mich an der einen oder anderen Stelle ertappt gefühlt, mit dem Cappuccino in der Hand mit aufgeschäumter Hafermilch, sitzend im Lesesessel. Oben an meiner Schulter entlang rankt sich die Monstera-Pflanze vom Bücherregal hinunter.
Fazit
Die letzte Berlin-Wahl zeigt es einmal wieder: Alle machen sich über Berlins chaotische Verwaltung lustig, aber eigentlich zieht es gefühlt jeden einmal dort hin. Auch ich habe einmal in Berlin gewohnt und kehre immer wieder gerne für Besuche zurück, nicht nur um Freund:innen zu besuchen, sondern da auch ich diese irgendwie einzigartige Atmosphäre der Metropole weiterhin anziehend finde. Die Bücher haben mir beide noch einmal mehr gezeigt, was Berlin ausmacht. Die bewegende Geschichte der Stadt hat bewiesen: sie kann so einiges überstehen. Alles scheint möglich. Und genau dieses Lebensgefühl hat überdauert bis in die Moderne, weshalb die Stadt weiterhin wohl so beliebt ist.
Berlin ist und bleibt wandlungsfähig, anziehend und gleichzeitig kontrovers.