*Werbung/Rezensionsexemplar*
Als ich vor vier Jahren nach Hamburg gezogen bin, hat es mich erst einmal nach Barmbek verschlagen – ein Viertel, das meiner Meinung nach zwar immer beliebter wird, aber wohl eher unter Zugezogenen. Diese mögen den Stadtpark und den Klinkerbau-Charme. Es siedeln sich bereits ein paar empfehlenswerte Szenecafés oder Lädchen im ehemaligen Arbeiterviertel an. Je länger ich in Hamburg wohne, desto häufiger kommen mir die vermeintlichen Vorurteile gegenüber Barmbek zu Ohren, wie ein wenig einfach, nichtssagend oder langweilig. Und so musste ich schmunzeln, als der Protagonist aus dem Roman „Vorglühen“ in den 90ern auch erst einmal in Barmbek landet und schnell bemerkt, dass das Leben woanders mehr pulsiert.
Inhalt
1994, auf der Hamburger Reeperbahn: Albert Bremer zieht es nach der Schule aus der oberbergischen Provinz nach Hamburg, in die Großstadt und weit weg genug von der Heimat, aber erst einmal ins wenig szenige Barmbek.
„Vor dem Werk B standen schon reichlich Leute, und es regnete einen typischen Hamburger Kackregen. […] Es schien Albert Bremer absurd, einfach in die S-Bahn zu steigen, um zu einem Konzert zu fahren. In seiner Heimatstadt […] waren Konzertbesuche unvermeidlich mit endlosen Autofahrten verbunden.“ Bei diesem Konzertabend trifft Albert auf Claus. Beide bemerken schnell, dass sie Seelenverwandte sind, was ihren Musikgeschmack betrifft. Und Albert wird noch weitere skurrile Typen treffen wie Susesh und Gernot oder Toni, von denen er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnt, dass sie seine engsten Freunde werden. Sie wandern gemeinsam von Bar zu Bar und trinken viel zu viel Bier. Im Laufe dieser Nacht begegnet Albert auch der geheimnisvollen Diana, die ihm bereits im Comicladen in Barmbek aufgefallen ist. Er findet ein WG-Zimmer auf St. Pauli und vor allem seine erste richtige Band.
Die Proben und das WG-Leben bestimmen ab sofort Alberts Tagesablauf, das Vorglühen die Nächte. Er fühlt sich frei. Nur seinen Eltern traut er nicht zu sagen, dass er nicht mehr in der Einraumwohnung in Barmbek wohnt und Hörsäle selten von innen sieht. Und sein Beziehungsstatus mit Diana? Naja, der ist eher kompliziert. Zumal ohne Handys und Internet eine Liebe zwischen Barmbek und Altona fast wie eine Fernbeziehung wirkt. Ähnlich kompliziert scheint es um die freundschaftliche Beziehung zu Claus bestellt, als Albert sein Talent fürs Texten entdeckt. War Claus doch der Leadsänger und Kopf der Band… Das Chaos in Alberts Kopf ist perfekt!
Kritik
„Aus der Provinz nach St. Pauli. Ein Roman, so intensiv wie eine durchfeierte Nacht. Vorglühen erzählt von Hamburg 1994 und von der Musik, die nach diesem Sommer ganz Deutschland begeistern wird. Vom elektrisierenden Gefühl, an dem Ort zu sein, an dem gerade etwas ganz Großes entsteht.“ Diese Klappentext-Beschreibung catcht mich unmittelbar. Als Liebhaberin der Musik von der Band Tocotronic (der Autor Jan Müller ist Bassist der Band) ist mir sofort klar, dass ich diesen Roman über Hamburg der 90er, über die Anfänge der „Hamburger Schule“ unbedingt lesen möchte. Diese relativ lose Musikbewegung knüpfte an die Neue Deutsche Welle an und vereint deutschsprachige Texte mit der Indierock-, Punk-, Grunge- und Pop-Musik. Die Inhalte waren tiefgründig, gesellschaftskritisch und linkspolitisch. Norddeutsche Bands wie Tocotronic, Blumfeld oder Die Sterne als Begründer der Hamburger Schule ebnen den Weg, dass deutsche Texte noch salonfähiger werden. Der Begriff „Hamburger Schule“ wird in dem Roman nicht erwähnt und doch wird schnell klar, dass Jan Müller und sein Co-Autor Rasmus Engler, u.a. mal Mitglied der Band Herrenmagazin, genau auf die Anfänge dieser Musikrichtung anspielen.
Eingewoben wird es in einen Coming-of-Age-Roman im Hamburg der 90er Jahre. Obwohl es keinen großen Spannungsbogen gibt und die Geschichte manchmal eher vor sich hinzuplätschern scheint, ist mir nicht langweilig beim Lesen geworden, sondern ich wurde in die Zeit hineingesogen. Die Phase des Erwachsenwerdens und des Selbstfindens, also die der ersten Liebe, des Studienbeginns und der ersten eigenen Wohnung, ist für einen selbst mehr als ereignisreich, auch wenn von außen betrachtet wenig passiert. Auf eigenen Beinen zu stehen und der Rausch des Nachtlebens sind aufregend genug. Die Charaktere des Buchs werden lebhaft mit ihren liebenswerten Eigenheiten beschrieben, ich kann mich in ihre Gedankenwelt und in die Probleme, vor denen sie stehen, einfühlen.
So habe ich mich gerne auf dem Lesesessel in eine Decke eingemummelt und mich gedanklich in die Talstraße (auf der Reeperbahn) der 90er Jahre zurück beamen und die anderen trinken lassen. Ich schmunzle über mir bekannte Phänomene, die wohl schon zu dieser Zeit die Hamburger:innen bewegte, wie die beliebte Entweder-Oder-Frage, ob östlich oder westlich der Alster, der klischeehafte Dauer-Nieselregen, den man irgendwann kaum mehr beachtet oder die berühmte Post am Kaltenkircher Platz (die noch immer der Albtraum eines jeden Bewohners in Altona ist).
Von dem vielen Bier fühle ich mich fast selbst beschwipst. Die Intensität der Hamburger Nächte in einer Zeit, in der sich durch Musik eine neue Jugendbewegung etablierte, kann ich mir lebhaft vorstellen. Manchmal hätte ich mir trotzdem einen konkreteren Fokus innerhalb der Geschichte gewünscht, beispielsweise indem die Liebesgeschichte oder der Aufstieg der Band zum Erfolg stärker ausgeführt worden wären. Aber diesen Umstand verzeihe ich den Autoren schnell, denen es gelingt, unterhaltsam und bewegend, das 90er-Jahre-Gefühl in Hamburg am Puls der Zeit wieder aufzuleben und emotional erfahrbar zu machen.
Fazit
Dieses Buch zieht sicher nicht nur mich in den Bann – sondern auch euch. Sei es, weil ihr selbst zu dieser Zeit groß geworden seid und, so wie mich, euch die intelligenten, poetischen Texte von Bands der Hamburger Schule wie Tocotronic und Tomte anspricht. Sei es, weil ihr selbst in Hamburg aufgewachsen seid oder nun dort wohnt. So könnt ihr die Stadt in der Zeit der 90er Jahre kennen lernen. Seit dem hat sich sicher Vieles durch die Digitalisierung verändert und dennoch ist die Atmosphäre der Stadt gleich geblieben. Der Roman ist eine Zeitreise, aber auch zeitlos.
Hier geht’s zur Playlist zum Roman, zum Vorglühen oder einfach zum Einstimmen bzw. Ausklingen der Geschichte.
Danke für den Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.