Wer uns schon länger folgt und kennt, weiß, dass wir gerne Literatur aus Ostdeutschland oder mit einem entsprechenden Bezug entdecken und lesen. Das hat in erster Linie auch etwas mit unserer eigenen Herkunft zu tun. Luise kommt gebürtig aus Magdeburg, Aline aus Dresden. Zwar haben wir als Geborene in der Wendezeit die ehemaligen DDR nicht bewusst mitbekommen, aber sind in der Nachwendezeit, in Zeiten des Aufbruchs, aufgewachsen. Es zieht uns dahingehend auch immer mal wieder in die nahe Vergangenheit – in Romane, die diese Zeit aufgreifen, oder in passende Sachbücher; und das einmal mehr zum diesjährigen 35. Jahrestag des Mauerfalls, am 9. November.
In unserem vorletzten Themenbeitrag für dieses Jahr hat Aline daher besonders drei Frauen und ihren Geschichten herausgesucht, die eine DDR-Vergangenheit haben, und Luise ergänzt um drei weitere, passende Buchtipps aus dem Blog-Archiv.
„Christa Wolf: Leben, Werk, Wirkung“ von Sonja Hilzinger
Erschienen im Mai 2007, Suhrkamp BasisBiographie
Schon länger wollte ich mich einer der weiblichen Stimmen der DDR widmen und war dementsprechend auf der Suche nach einer Biografie von Christa Wolf. Zunächst fand ich eine Biografie geschrieben von Jörg Magenau (Christa Wolf: Eine Biographie), welche ich jedoch nach einigen Seiten wieder zur Seite legen musste. Zu statisch erschien mir die Sprache, und ich konnte mich schlecht in den Text einfühlen. Nach einiger Recherche fand ich dann die Biografie von Sonja Hilzinger, die neben Büchern über Christa Wolf ebenso über andere Autorinnen, wie zum Beispiel Anna Seghers, veröffentlicht hat. Die kurze, präzise und auf den Punkt gebrachte Biografie Christa Wolf: Leben, Werk, Wirkung bringt mir nicht zum einen die Autorin und ihr Aufwachsen, die damit verbundene Fluchterfahrung und das Leben in der DDR sowie ihre Reisen in die ganze Welt näher. Zum anderen geht sie in einem zweiten Teil auf die Werke Christa Wolfs und in einem dritten Teil auf ihre Wirkung in der DDR, BRD und international ein. Dies alles auf knapp 135 Seiten erscheint mir wie ein idealer Einstieg und eine Annäherung an die Person Christa Wolf, die vor Kritik an „dogmatischen und repressiven Zügen des DDR-Sozialismus, an patriarchalen Strukturen, an atomarer Aufrüstung und Kriegen (…)“ (S. 7) nicht zurückschreckte. Wolf war eine polarisierende Figur, der jedoch folgendes in erster Linie wichtig war: „Literatur soll wahrhaftig sein, und ihre Wahrhaftigkeit bezieht sie aus der Gebundenheit an das Individuum und dessen konkrete Erfahrung“ (S. 59), ein Zug, der sich auch durch all ihre Werke zieht. Als Nächstes möchte ich nun einen Roman von ihr lesen. Habt ihr Vorschläge?
„Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers
Erschienen im April 2018, Aufbau Verlag
Auch Anna Seghers‘ Biografie ist geprägt von Flucht. So musste sie während des Zweiten Weltkriegs zunächst nach Frankreich, später nach Mexiko ins Exil flüchten. Dort erschien 1942 das wohl bekannteste Buch der späteren Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR und Gründungsmitglied der Deutschen Akademie der Künste: Das siebte Kreuz. Im Roman wird die Flucht von Georg und sechs weiteren Mitgefangenen des Konzentrationslagers Westhofen erzählt. Georg wird, so ist bereits von Anfang an bekannt, der Einzige sein, dem die Flucht gelingen wird; alle anderen bezahlen sie mit ihrem Leben. Das Buch erzählt unheimlich nahbar und ergreifend von den Zuständen in Deutschland zur Nazizeit: von den Machenschaften von SS und SA, wie Haus- und Blockwarte ihrer Meinung nach verdächtige Menschen beobachten und den Behörden melden. Eine Atmosphäre von Angst durchzieht den gesamten Roman und doch schimmert so etwas wie Hoffnung hindurch, da Georg seinen Verfolgern immer ein wenig voraus sein wird.
Bedenkt man, dass der Roman 1942 erschien, während Seghers im Exil in Mexiko verweilte, geschrieben noch während ihres Aufenthaltes in Paris, sind die Beschreibungen des KZ-Lagers und der Flucht der Inhaftierten darüber hinaus als sehr authentisch und erschütternd zu lesen. Dies gelang ihr wohl aufgrund zahlreicher Schilderungen, aber auch eigener schmerzhafter Erfahrungen. Das siebte Kreuz ist noch heute aktuell , die Sprache zeitlos und es kann als Mahnmal für unruhige Zeiten gesehen werden, in denen Demokratien gefährdet erscheinen.
„Das Mädchen zwischen den Zeilen“ von Sylvia Krupicka
Erschienen im Februar 2024, Periplaneta Verlag, Rezensionsexemplar
Den Stein ins Rollen für diesen Beitrag brachte Sylvia Krupicka, die uns kontaktierte und ihren Roman Das Mädchen zwischen den Zeilen vorstellte und uns ansprach: Eine Geschichte über das Mädchen Simone, die in einem Neubaublock direkt an der Berliner Mauer in Ost-Berlin aufwächst. Simone ist das erste Mal verliebt, in einen etwas älteren Jungen, der direkt im Hinterhaus wohnt. Besuchen kann sie ihn dort nur, wenn es von der Polizei genehmigt wurde; ansonsten darf sie oder andere Bürger das Hinterhaus nicht betreten. Anders ist es mit einem Sandplatz direkt neben dem Wachturm der Berliner Mauer, wo Kinder spielen dürfen, Erwachsene jedoch nicht erlaubt sind. Dorthin flüchtet sich Simone allein, mit ihrem Bruder oder auf Einladung des Nachbarsjungen. In erster Linie ist der Sandplatz aber auch ein Ort, an dem sie dem angespannten Verhältnis mit ihren Eltern entkommen und ihrem engmaschigen Tagesablauf ein Stück Freiheit hinzufügen kann.
In der bildhaften Beschreibung des Alltags von Simone, ihrer Freunde und Familie fängt Krupicka die Atmosphäre des Lebens im Grenzgebiet der Berliner Mauer in den 1970er-Jahren ein. Dank der kindlichen Perspektive von Simone fügt sie der beklemmenden Stimmung zugleich etwas von wilder Freiheit und naiver Unschuld hinzu. Fußnoten erklären Ostdeutsche Begriffe, wobei auf eine sachliche Ebene verzichtet wird; stattdessen wird ein Ton angeschlagen, der eher daran erinnert, als würde Simone ihrem jüngeren Bruder erklären, was ein bestimmter Begriff bedeutet.
Im zweiten Teil des Romans verlässt die Erzählung den schützenden Rahmen des gewohnten Umfelds. Dieser Teil fügt dem Roman zwar eine weitere interessante Facette hinzu, jedoch hätte ich es bevorzugt, bei der Erzählung aus dem ersten Teil zu bleiben. Nichtsdestotrotz kann ich mir Das Mädchen zwischen den Zeilen als einen generationsübergreifenden Roman vorstellen.
Luises Buchtipps zum Weiterlesen:
Charlotte Gneuß machte mit „Gittersee“ 2023 nicht nur durch die Nominierung auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis oder als Preisträgerin des ZDF-Aspekte-Literaturpreis auf sich aufmerksam. So war es auch ein kontrovers besprochener Debütroman, zur Debatte, ob jemand aus der Nachwendegeneration einen Roman über die DDR schreiben dürfe. (Wir sind der Meinung: na klar!)
Drei Freundinnen treffen sich sieben Nächte an einem Küchentisch oder an vermeintlich längst vergessenen Orten, die beim Reden über die Vergangenheit Erinnerungen hervorholen, wie ein Appellplatz beispielsweise. Im Spiel sind außerdem Gummitwist, Alkohol und viele kluge Gedanken, die vor allem auch die Gegenwart und Zukunft betreffen: Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann: „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“
Die Autorin und ZEIT-Redakteurin Valerie Schönian kommt ursprünglich aus Magdeburg, Luises Heimatstadt. Deshalb wurde sie natürlich sehr neugierig auf Schönians Buch „Ostbewusstsein“ und vor allem auf ihre persönliche Sichtweise über die Nachwendegeneration, die im Fokus ihres Sachbuches steht und der sie genauso angehört wie wir. Mit einem Interview mit der Autorin (siehe Verlinkung).