Die Stimme der Frauen der Zukunft: „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“

Drei Freundinnen treffen sich sieben Nächte an einem Küchentisch oder an vermeintlich längst vergessenen Orten, die beim Reden über die Vergangenheit Erinnerungen hervorholen, wie ein Appellplatz beispielsweise. Im Spiel sind außerdem Gummitwist, Alkohol und viele kluge Gedanken, die vor allem auch die Gegenwart und Zukunft betreffen:

Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann:
„Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“

Erschienen bei Hanser Buchverlage, im März 2024, Rezensionsexemplar

Hier zu sehen: Zwei ostdeutsche Frauen, die sich (fast) betrinken und einen (fast) idealen Podcast gründen.

Inhalt

Die Autorinnen sind jeweils in der DDR aufgewachsen: das sind die Schriftstellerin und Journalistin Annett Gröschner (1964) aus Magdeburg, die Dramaturgin und Schriftstellerin Peggy Mädler (1976) aus Dresden sowie die freie Künstlerin Wenke Seemann (1978) aus Rostock. Mittlerweile wohnen sie alle in Berlin. Sie wurden von dem längst vergangenen Staat, der DDR, geprägt, haben sich zum Teil gegen ihn aufgelehnt und sich nach der Wende immer wieder mit ihrer Ost-Sozialisation auseinander gesetzt. Das Buch ist wie ein Podcast, man hört den Frauen gedanklich beim Diskutieren zu.

Es beginnt mit einem Kassensturz: Was bedeutet es eigentlich eine „Ostfrau“ zu sein und welche Klischees haften an den ostdeutschen Frauen (noch immer)? Beißen ostdeutsche Frauen immer die Zähne zusammen, können sie eher Veränderungen trotzen, lassen sie ihre Kinder schreien, haben aber dafür ein natürlicheres Verhältnis zu ihrem Körper?

Kassensturz Nr. 2: Die drei Autorinnen analysieren Konzepte, die in der Wendezeit entstanden, aber nie zur Anwendung kamen. Sie prüfen sie daraufhin, welche Forderungen noch immer bestehen und ob die Lösungsansätze weiterhin tragbar wären: wie das Flugblatt der Frauenintiative „Lila Offensive“ (welcher Annett Gröschner angehörte). Hier wurde unter anderem das Konzept der Ehe in Frage gestellt, für bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung in klassischen Frauenberufen gefordert sowie mehr Frauen in Führungspositionen in der Wirtschaft, Wissenschaft und Politik – Ansätze, die noch immer Debatten füllen. Diese Initiative lieferte zudem Impulse für den Runden Tisch, bei dem nach dem Mauerfall Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen zusammenkamen, um einen neuen Verfassungsentwurf für die DDR konzipieren. Auch diese Quelle wird sich genauer angeschaut, die Präambel, an der unter anderem die DDR-Schriftstellerin Christa Wolf mitgewirkt hat. So bezweifeln sie durchaus die Umsetzbarkeit eines damalig geforderten Rechts auf Arbeit, die Forderung nach mehr sozialem Wohnungsbau in aktuellen Zeiten von steigenden Mietpreisen drängt sich für sie allerdings wieder auf.

Es folgen Gedanken, Thesen, Argumente, Gegenargumente sowie Lösungsansätze der drei Autorinnen. Es herrscht nicht immer Einigkeit. Aber genau darum geht es letztendlich: um die Streitbarkeit und Dialektik, eine Theorie, die sie ihren Gesprächen zu Grunde legen. Es ist ihrer Meinung nach wichtig, Widersprüche auszuhalten, was in dem Land, in dem sie aufgewachsen sind, nicht möglich gewesen ist.

Kritik

Obwohl ich gespannt war, wie dieser ideale Staat aussehen könnte, so bin ich froh, dass es den Frauen nicht darum ging, ein Konzept für einen idealen Staat zu erstellen. Denn diesen gibt es letztendlich nicht. Und was es bedeutet, einen vermeintlich idealen Staat zu gründen, der zur Umsetzung Druck, Willkür und Überwachung benötigte – haben sie am eigenen Leib erfahren. Doch zu diskutieren, was im Einigungsvertrag hätte besser laufen können, finde ich einen wichtigen Ansatz. So wurden beispielsweise geschiedene Frauen benachteiligt, da ihnen nicht wie in der DDR nach der Trennung ein Versorgungsausgleich für die Kinderbetreuungszeit zugestanden wurde. Gewünscht hätte ich mir manchmal mehr Mut zu provokanten Thesen, was der so schmissige und zugespitzte Titel für mich versprochen hat.

Die Papiertüte jedoch, in die Schnipsel mit überholten Begriffe reinkommen, finde ich wiederum sehr plastisch und kreativ. So arbeiten sie sich an Begrifflichkeiten ab, wie Völkerfreundschaft, der für sie mittlerweile negativ besetzt ist (die Alternatividee Völxerfreundschaft finde ich witzig), genauso der Sozialismus. Solche Begriffe kommen im wahrsten Sinne des Wortes in die Tüte: „Und der Sozialismus kann auch in die Tüte, der scheitert ja schon am Menschenbild, das ist komplett unrealistisch. Deshalb gab‘s ihn nur in Diktaturen, da hat’s auch nicht geholfen, dass die sich ‚Diktatur des Proletariats’ nannten.“ (Wenke Seemann, S. 167) Der Begriff der Solidarität wiederum sollte bleiben bzw. wieder stärker in den Fokus genommen werden.

Das alles geschieht bei viel Wodka und Gummitwist: So ist es doch erfrischend, mal nur Frauen ins sprichwörtliche Kämmerchen zu sperren, um über die Probleme der Welt zu diskutieren und dabei Lösungen zu suchen, selbst wenn sie zum Teil wieder verworfen werden. Denn würden Männer dabei Gummitwisten? Wohl eher nicht. Dabei ist das Spiel: „Seite, Seite, Mitte, Breite. Seite, Seite, Mitte, raus“, wie im Interview mit dem NDR dargestellt, ein sehr schönes Anschauungsbeispiel zur Dialektik, bei der es so wichtig ist, dass wir Widersprüche in der Realität aushalten. Damit wir ein Schwarz-Weiß-Denken vermeiden: „Also These, Antithese, Synthese im besten Fall Erkenntnis. Neues Problem, neue These, neue Antithese, neue Synthese, Widerspruch. Und von vorne.“

Fazit

Dieses Buch ist ernsthaft und zugleich so unglaublich unterhaltsam. Liebe Politikerinnen und Politiker, wo ist euer Gummitwist, mit dem ihr in Plenumspausen einfach mal mit anderen Parteien die Theorie des dialektisches Denkens nachspielt, für einen Perspektivwechsel unterschiedlicher Standpunkte? 🙂

„Berliner Bürger*Stuben“ und „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“

Weiterer Buchtipp von der Autorin Annett Gröschner: „Berliner Bürger*Stuben. Palimpseste und Geschichten“

Erschienen bei Edition Nautilus, 2020

Annett Gröschner setzt im Titel des Buches „Berliner Bürger*Stuben“ bewusst ein Sternchen. Denn es ist weniger das Kneipenleben gemeint, als mehr die Berliner*innen und deren zahlreichen Geschichten, auf den Straßen, aber auch in den eigenen Stuben, die im Mittelpunkt stehen. Für Gröschner ist Berlin ein Palimpsest, also wie ein Text, der immerwährenden Überschreibungen ausgesetzt ist. Obwohl ich dem insofern widersprechen würde, als dass in Berlin die Veränderungen sichtbar bleiben. Es ist für mich kein Überschreiben, als vielmehr ein stetiges Mitschreiben. Das Buch erzählt episodenhaft über diese prägenden, immer noch spürbaren Veränderungen. Besonders mochte ich die Texte über die unmittelbare Wendezeit, da sie das damals überbordende Gefühls des „Alles scheint möglich“ vermitteln:

„Alle wussten, dass etwas passieren wird nach diesem Tag, doch keiner wusste, was. Das machte den 04. November so leicht und frei, so untastbar und unsterblich (…) Es war de facto das Ende der DDR. Ich fand und finde es richtig, dass sie einfach so ins Klo gespült wurde. Dass hinterher manches anders lief, als es hätte besser laufen können, ändert daran gar nichts.“ (S.165)
(Am 04.11.89 versammeln sich auf dem Alexanderplatz 500.000 Menschen zur größten systemkritischen Demonstration in der DDR-Geschichte.)

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