Warum wird der Kanon wesentlicher Literatur, zum Beispiel in Schulen oder an der Uni oder in Literaturkreisen, vor allem von Männern bestimmt? Und warum gibt es wiederum sogenannte „Frauenliteratur“, aber keine Männerliteratur? Nicole Seifert gibt in dem Buch „Frauenliteratur“ einen geschichtlichen Einblick, aber auch in die bestehende Forschung und warum diese wiederum auch nicht nur von Frauen bestimmt sein muss. Das Buch erschien bereits im September 2021, hat jedoch bisher nicht an Aktualität verloren.
Doch hat es auch etwas in Bewegung gesetzt, denn mittlerweile gibt Nicole Seifert gemeinsam mit Magda Birkmann in der Reihe rororo Entdeckung ein kleines und feines Programm längst vergessener Autorinnen des 20. Jahrhunderts heraus. Vom Verlag war ich eingeladen, an der Vorstellung des Herbstprogramms teilzunehmen und das Programm zu entdecken. Ich gebe zu, dass ich Berührungsängste hatte, denn oft kommt mir Literatur von Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts (oder älter) als etwas eingestaubt, die Sprache schwerer vor. Doch mit „Zauberhafte Aussichten“ von Stella Benson wurde ich eines Besseren belehrt.
Die Protagonistin ist eine Hexe und wer meinen Beitrag über „Hexen“ von Marion Gibson gelesen hat, weiß, wie sehr ich von ihren Protagonistinnen fasziniert bin. In „Zauberhafte Aussichten“ entführt uns die Autorin Stella Benson nach London in die Zeit des Ersten Weltkriegs und verpackt Leid und Tragik in eine ironische und sarkastische Beobachtung. Der Roman verfolgt die junge Sarah Brown, die auf einer Komiteesitzung das erste Mal die Hexe trifft, die sie einlädt, in das geheimnisvolle Haus „Haus Alleinleben“ zu ziehen. Über den Roman hinweg lernen wir Sarah kennen, die sich von einer schüchternen, jungen zu einer selbstständigen und selbstbewussten Frau entwickelt und das Abenteuer ihres Lebens erleben wird. Vollgepackt mit mystischen und fantastischen Elementen schafft es Stella Benson, all dies vor den Geschehnissen des Ersten Weltkriegs abzubilden und ein Stück Zeitgeschichte erfrischend komisch einzufangen. Alleine die Szene eines Luftangriffs auf London, in der unsere Hexen gegen eine deutsche Hexe kämpfen, ist großartig erzählt und strotzt nur so vor kreativem Einfallsreichtum.
Jeder Roman der rororo Entdeckung Reihe wird von den Herausgeberinnen ausgewählt, durch Übersetzerinnen neu oder erstmalig ins Deutsche übersetzt und mit einem Nachwort versehen, welches noch einmal Kontext zu Zeit, Autorin und Inhalt gibt.
So auch „Familienglück“ von Laurie Colwin, in dem die Autorin von Polly, ihrem Leben in der Park Avenue, ihrem Anwaltsehemann Henry und ihren zwei Kindern erzählt. Das Familienleben und die Rolle der Ehefrau und Mutter Polly, der ihr Leben oft wie ein Korsett vorkommt, wird betrachtet und wie sie in eine Affäre mit dem Maler Lincoln hineinschlittert. Laurie Colwin erzählt diesen Ehebruchroman, welcher 1982 erstmalig erschien, klug und komisch und beleuchtet ein Thema, welches zu dieser Zeit möglicherweise zu den Tabuthemen zählte. Ein Grund mehr, diese längst vergessenen weiblichen Stimmen der Literatur zu entdecken.
Romane in diesem Beitrag:
Sella Benson „Zauberhafte Aussichten“* (Übersetzt von Marie Isabel Matthews-Schlinzig)
Laurie Colwin „Familienglück* (Übersetzt von Sabine Längsfeld)
Nicole Seifert „Frauenliteratur“
Die Reihe: rororo Entdeckungen
*Rezensionsexemplare