Ein modernes 1984? Rezension zu Dave Eggers „Every“

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Schöne neue digitale Welt: Smartwatches zählen jeden Schritt, messen den Pulsschlag und informieren den Nutzer, wenn er schlecht geschlafen hat. Ist das schon Überwachung oder noch Gesundheitsvorsorge? Wie sehr wird der Nutzer Sklave seiner Uhr am Handgelenk, wenn er gleichzeitig über die Breaking News aus der Welt und Textnachrichten von Tante Irmi informiert wird? Mit „1984“ hat Georg Orwell einen dystopischen Roman vorgelegt, der die totalitäre Überwachung eines Staats beschreibt. Hat Dave Eggers mit „Every“ einen dystopischen Roman rausgebracht, der die totalitäre Überwachung des Individuums selbst beschreibt? Möglicherweise ja.

Dave Eggers „Every“, erschienen bei KiWi Oktober 2021 – zum Buch
und wer „1984“ nicht kennt, hier geht es zur Rezension von Luise.

Inhalt

Every ist die größte Suchmaschine gepaart mit dem größten Social-Media-Anbieter und Versandhandel der Welt, quasi ein Google meets Amazon meets Meta. Every bildet damit ein Monopol und analysiert neben Einkaufsverhalten auch soziale Interaktionen und beobachtet das Leben seiner Nutzer ganzheitlich. Die Produkte von Every sind so beliebt, dass die Bevölkerung sie gerne freiwillig benutzt und Regierungen Aufgaben an den Konzern abgegeben, die zum Beispiel der Einhaltung von Recht und Ordnung dienen. Die Beliebtheit ist nicht nur auf eine clevere Vermarktung der Produkte zurückzuführen, sondern auch darauf, dass sie ihren Nutzern Arbeit abnimmt und ihnen klar sagt, wie man sein Leben gut gestalten kann. Die Produkte von Every empfehlen zum Beispiel beim Online-Einkauf automatisch ein nachhaltigeres Produkt als das schon im Warenkorb befindliche. Every hilft zum Beispiel auch beim Fitnesstracking und gibt Tipps und Anreize für ein gesünderes Leben. Die Menschen lieben Every dafür. Eben in diesem bei der Bevölkerung sehr beliebten Unternehmen mit Sitz im amerikanischen Kalifornien fängt Delaney Wells ihren neuen Job an. Die ehemalige Försterin hat sich trotz ihrer Technikskepsis ihren Weg in das Unternehmen erschlichen, nur mit einem Ziel: Das Unternehmen von innen heraus zu zerschlagen. Als Intern durchläuft Delaney verschiedene Abteilungen, die hauptsächlich Daten auswerten, die das Unternehmen durch verschiedene Apps von den Nutzern sammelt. Mit den Erfahrungen, die sie gewinnt und Ihrer Überzeugung, die Menschheit von allumfassender Überwachung und emojigesteuerter Kommunikation zu befreien, erfinden Delany und Wes, ein Freund und späterer Kollege, Apps, die vermeintlich so abstrus erscheinen, dass keiner sie nutzten will. Ziel ist es so, die Macht des Konzerns zum schwanken zu bringen. Ob sie erfolgreich sein werden?

Kritik

KI, AI, Big Data – Daten sind das neue Gold. Und in der von Dave Eggers konstruierten Welt finden sich Kameras an jeder Ecke, die direkt und unmittelbar Daten sammeln und etwaiges Fehlverhalten ahnden. Die Kriminalitätsrate ist dadurch deutlich gesunken, aber das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde im gleichen Atemzuge genommen. Niemand würde mehr eine Freundin darauf hinweisen, dass die Farbe Rot ihr nicht so gut steht, da diese eine liebgemeinte Äußerung als negativ auffassen und in der entsprechenden Every-App bewerten würde. Die Bewertung fließt in eine Tageszusammenfassung, die neben dem sozialen Verhalten auch Bewegungsdaten sammelt und Vorgaben zum Ess- und Trinkverhalten macht, um etwaige Erkrankungen vorzubeugen. Auf Ansage der App legt sich Delaney schlafen, trinkt, ernährt sich entsprechend ihrer Gesundheitsdaten und springt von ihrem Schreibtischstuhl auf, um Situps durchzuführen, wenn die App es ihr sagt. Dass Delany kein Fan dieser Überwachung ist, geht schon aus der Inhaltsbeschreibung hervor. Wie es dazu gekommen ist, wird in den Kapiteln gut und nachvollziehbar erzählt. Als Charakter erscheint mir Delany zwar etwas treu-doof und leider fehlen ihr die für die Mission notwendigen Geheimagentinen-Vipes. Sie verkörpert jedoch eine Person, die sich zwar eindimensional darstellt, aber die ihrer Überzeugung nach vermeintlichen Fehler im System erkannt hat und dafür einsteht. Mit Wes hat sie sich strategisch einen Partner-in-Crime an die Seite geholt, der das System ähnlich diskreditiert wie sie, aber zusätzlich über das technische Verständnis verfügt, das es benötigt, um Every und seine Chefin Mae Holland zur Strecke zu bringen. Dass der Autor sich knapp 600 Seiten Zeit genommen hat, um diese dystopische Welt zu erbauen und den Irrsinn abzubilden, halte ich für angemessen. Zu keiner Zeit erschien es mir zu langatmig oder gar langweilig. Ganz im Gegenteil!

Fazit

Bis zum Schluss flog ich nur so über die Seiten, um den Kampf Mensch gegen Konzern zu erleben. Ich hätte mir vielleicht sogar 50 Seiten mehr gewünscht (was spielen die bei knapp 600 schon für eine Rolle?), um noch einen Blick weiter, in die Zukunft zu werfen. Da „Every“ eine Art Fortsetzung von „Der Circle“ (noch nicht gelesen, aber die Verfilmung mit Emma Watson kann ich persönlich sehr empfehlen) ist, gebe ich Dave Eggers jetzt ein paar Jahre Zeit, bis ich um eine weitere Art Fortsetzung bitten würde. Bis dahin, überlege ich mir aber sehr ernsthaft, welche Apps und Daten ich welchen Anbietern zur Verfügung stellen möchte, denn wenn auch konstruiert, erscheint mir die Welt von Dave Eggers realer, als die von Georg Orwell in „1984“.

Vielen Dank an den Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

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