Eine Buchbesprechung mal anders, ein Interview mit einer guten Freundin
erschienen bei Rowohlt, im März 2022
Mir fehlen die Worte beziehungsweise kann ich kaum in Worte fassen, welche Emotionen das Gelesene bei mir auslöst. Da ist keine Zeile zu viel, da ist so viel Wahres drin und trotz einer fiktiven Handlung wirkt es real. In „Die Wut, die bleibt“ von der Autorin Mareike Fallwickl spüre ich die Wut auf jeder Seite, in jeder Zeile. Ich musste den Roman mehrmals beiseitelegen, um zu verarbeiten, nachzudenken, zu reflektieren. Vor allem wollte ich die Gedanken zum Buch mit jemanden teilen, da diese einen nicht nur gefühlt wütend anschreien, sondern mit Wucht treffen. Und dabei dachte ich an einen Perspektivwechsel: unterhalten habe ich mich mit meiner sehr gute Freundin Jenny, die wie die Protagonistin Helene Mutter von zwei Kindern ist.
Romaninhalt
Die Handlung des Buchs spielt sich während des Lockdowns in der Coronazeit ab, in einem Ausnahmezustand: Helene, Mutter von drei Kindern, stürzt sich in den Tod, scheinbar unvermittelt. Die Familie ist im Schockzustand. Plötzlich fehlt ihnen nicht nur die Mutter, sondern alles, was sie bisher zusammengehalten hat: Liebe, Fürsorge, Halt.
Helenes beste Freundin Sarah hat Schuldgefühle, dass sie ihrer Freundin in der Pandemiezeit mit all den Herausforderungen als Mutter zu wenig beigestanden habe. Sie möchte nun in der schweren Zeit der Trauer die Familie ihrer verstorbenen Freundin unterstützen, wobei sie immer mehr in die Rolle der Ersatzmutter gerät. Lola, die älteste Tochter von Helene, befindet sich in einer Lebensphase, in der sie ihren Platz zwischen dem Mädchen- und dem Frausein sucht. Und sie versucht ihre Emotionen unter anderem nach dem Tod ihrer Mutter zu kanalisieren, vor allem ein Gefühl keimt auf: die Wut.
Die Schicksale der drei Frauen Helene, Sarah und Lola verweben sich. Ihre unterschiedliche Wut führt zu einem Vulkanausbruch, der vor allem eines zeigt: Was es in unserer Gesellschaft heißt, Frau zu sein. Denn es bedeutet häufig leider noch, in die Schublade gesteckt zu werden, alles sein zu dürfen, aber bitte nicht wütend.
Eine Buchbesprechung als Gespräch
Von außen betrachtet, aus einer kinderlosen Sicht, scheint der folgende Auszug der ersten Seite eine vermeintlich ’normale‘ Alltagssituation: „Haben wir kein Salz, sagt Johannes beim Abendessen, sagt es genau so: Haben wir kein Salz und nicht einmal in Helenes Richtung. Sie hört das Du in seiner Formulierung, hört: Hast du es vergessen, hört: Du hast doch gekocht, hört: Stehst du noch mal auf, und all diese Dus schlagen ihr die Kraft aus dem Körper. […] Und laut, Alle sind laut, das ganze Abendessen ein Lärm, nein der gesamte Tag. […] Sie erhebt sich, und niemand achtet darauf, weil sie denken: Sie hat es vergessen, sie hat doch gekocht, weil sie denken: Sie ist die Mutter.“
Die Erste Seite: Was hast du dabei gefühlt?
Jenny: „Bei mir war sofort eine krasse Conncetion da, zwischen mir und der Frau, die leider drei Sätze später tot war. Aber in dem Moment habe ich gedacht, ja, da kann ich richtig mitfühlen. Diese Situation – alles ist laut, alle wollen was, alle wollen vor allem was von der Mutter – ich habe da und bei so vielen anderen Stellen mitgefühlt. Mich hat die erste Seite mitten ins Herz getroffen. Ich hatte auch beim Lesen Tränen in den Augen. Aber der letzte Satz der ersten Seite war völlig schockierend für mich, dann musste ich das Buch erst einmal weglegen und darüber nachdenken. Diese Seite war so emotional für mich, dass ich darüber nachgedacht habe, ob ich das Buch überhaupt weiterlesen kann. Weil ich dabei dachte, könnte ich das jetzt auch sein? Auch ich wollte manchmal einfach nur weg, vor allem in der Quarantänezeit, als es sich so zugespitzt hat. Ich war erschöpft, ich war am Limit. Überm Limit. Diese Seite, aber auch das ganze Buch haben in mir ausgelöst: Ich bin nicht alleine. Und es ist in Ordnung, dass ich überfordert bin. Dass ich deshalb nicht gleich eine schlechte Mutter bin. Ich habe mich verstanden gefühlt und habe die Überforderungsgefühle zugelassen.“
Als ich diese Worte von Jenny höre und dabei zeitgleich die erste Seite des Romans noch einmal lese, ist es, als würde ich die Seite noch einmal neu lesen, mit ganz anderen Augen. Ich spüre plötzlich diese Intensität, die in den Zeilen steckt, diese ganzen Emotionen, die insbesondere eine Frau mit Kind dabei fühlen kann.
„Ich habe mir in der Pandemie manchmal gewünscht, keine Kinder zu haben.“ Als ich diesen Satz von Jenny höre, erwidere ich: „Ehrlich gesagt habe ich auch häufig im Lockdown gedacht, dass ich froh bin, keine Kinder zu haben. Immerhin war ich schon ohne manchmal überfordert mit den eigenen Ängsten wie Angst vor einer Infektion bis hinzu Existenzängsten in Kurzarbeit. Was wäre, wenn ich dann noch ein Kind gehabt hätte? Diese Aussprache führt zum Glück dazu, dass Jenny sich verstanden fühlt, ich ihre Überforderung damit anerkenne und ihre Ausdauer und Geduld in der Zeit bewundere.
Bei welchen Situationen, die beschrieben wurden, hast du selbst gedacht: Genau so ging es mir auch! Und: das war anders bei uns?
„Eine Situation, in der ich mich wieder erkannt habe, ist, als Sarah mit den kranken Kindern allein war und sie meinte, mit Kindern sei es immer körperlich. Das stimmt. Es ist einerseits schön, wenn sich die Arme des Kindes um einen schlingen. Aber manchmal denke ich, lasst mich in Ruhe. Das ist mein Körper!“
„Was bei uns anders war, war das Alter der Kinder. Mit den Konfliktsituationen mit einem pubertären Kind habe ich noch keine Berührungspunkte. Die Entwicklung von Lola fand ich aber spannend zu beobachten.“
Denn Lola scheint sich nahezu unsichtbar machen zu wollen, versteckt sich hinter einem Hoodie, möchte verschwinden, wie Jenny im Gespräch so schön formuliert. Gleichzeitig verletzt sich Lola, um zu spüren, dass sie noch am Leben ist. Die Wut kehrt sie nach innen, richtet sie auf sich selbst, habe ich den Eindruck. Doch ein Ereignis führt zu einer immensen Veränderung, die Wut richtet sich auf die patriarchalen Strukturen der Gesellschaft. Lola kämpft gegen gesellschaftliche Schönheitsideale an und lebt Body Positivity. Lolas Auftrag scheint es zu werden, die Wut nach außen zu tragen und zwar die Wut aller Frauen. Da kann es nur knallen.
In dem Buch wird beschrieben, dass die Last vor allem auf den Frauen bzw. Müttern lag. Die Männer konnten sich rausziehen. Hattest du diesen Eindruck auch?
„Die Figur Johannes zeigt es: ich war stellvertretend ärgerlich auf diesen Mann. Er wird nicht nur diesen einen Satz:„Haben wir kein Salz“ gesagt haben, sondern ständig diese Dinge, sodass Helene sich allein gelassen, sich in der alleinigen Verantwortung gefühlt hat. Es lastet alles auf ihren Schultern. Nur er haut unbedarft solche Sätze heraus.
Dann ist die Ehefrau weg. Und es geht einfach weiter mit der Freundin Sarah, er nimmt es als selbstverständlich, dass sie sich nun um die Kinder kümmert, sie ist ja die Frau. Er kann weiter arbeiten gehen.“
Und auch ich habe an der Situation erkannt, dass die traditionelle Rollenaufteilung von Männern und Frauen weiterhin gesellschaftlich verankert scheint, sodass sich Frauen schnell in die Rolle der Mutter und Hausfrau einfügen. Lola macht an einer Stelle Sarah darauf aufmerksam, als diese unterstützen will und die Wohnung heimlich putzt: ‚Warum machst du das?‘ Johannes hat es sich durch die traditionellen Denkmuster leicht gemacht. Sarah hat umgehend die vermeintliche Lücke gefüllt, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte. Kein guter Kumpel von Johannes wäre auf die Idee gekommen zu helfen.
Bei einem gemeinsamen Freundinnenabend beschrieben die Mütter unter uns fast alle, dass der Haushalt weitestgehend bei ihnen hängenbleibe. Mich hat das erst verwundert, weil ich das gleichberechtigt kenne. Aber durch den Perspektivwechsel gemeinsam mit Jenny wurde mir klar, dass sich solche Rollenaufteilungen mit Kindern verschieben können. Selbst Paare, die vor dem ersten Kind gleichberechtigt Aufgaben aufgeteilt haben, fügen sich laut Studien danach häufig in die traditionelle Rollen ein – die Frau geht länger in Elternzeit und danach in Teilzeit. „Die Frau ist ja eh zu Hause und dann verpassen viele Paare den Absprung. Dann haben die Frauen nach der Elternzeit die Mehrfachbelastung. Haushalt mit Kindern ist auch nicht mit Haushalt ohne zu vergleichen. Hier unterm Tisch bei mir könnte man schon wieder satt werden. Frauen gehen zwar in Teilzeit, aber dann weiter die Carearbeit zu machen ist eine Milchmädchenrechnung. Das führt auch zu mangelnder Wertschätzung. Ich gehe deshalb wieder Vollzeit arbeiten, damit ich auch selber nicht mehr in diese Falle gerate.“.
Von wem hättest du dir damals Unterstützung gewünscht?
„Muttersein ist wie ein Schiff. Und irgendwann merkt man, man sitzt da ganz allein drin. Man ist umgeben von dunkeln Strudeln, hat kein Ruder, keinen Kompass.
Aber wer steuert das Schiff?, fragt Sarah.
Das kapiert man erst nach einer Weile, erwidert Helene, es sind die Männer. Es sind die Politiker und die Gesellschaft . Wir Mütter haben keine Macht. Wir tragen die gesamte Last, aber Macht haben wir keine.“ (S. 174)
„Ich hätte mir deutlich mehr Unterstützung von der Gesellschaft gewünscht. Ich habe mich von ihr alleingelassen gefühlt. Die Mütter und Familien waren egal.
Das Zitat, das du nennst Luise, ist sehr passend. Ich habe erst seit der Pandemie und jetzt noch mehr durch das Buch das Thema Mental Load so richtig auf dem Schirm. Ich nerve meinen Freund plötzlich immer mit: So, wer ist diese Woche für was zuständig? Wer organisiert den Kindergeburtstag? Wer fährt die Kinder zum Sport? Seit Corona setze ich mich sehr für mehr Gleichberechtigung in der Familie ein.“
Auch wenn wie in dieser Beziehung die Männer modern und gleichberechtigt denken, spätestens im Lockdown blieb das meiste bei den Müttern hängen. Die Machtpositionen in der Politik und Gesellschaft bleiben männerdominiert und so wurden bei wichtigen Entscheidungsprozessen die Bedürfnisse der Familien und Mütter nahezu ignoriert. Ihnen fehlte im Vergleich zur Lufthansa oder dem Fußball die Lobby.
„Ich bin jetzt viel wütender bei den Themen.“
Unser Eindruck zum Buch:
Zu „Die Wut, die bleibt“ haben wir ein langes Gespräch geführt, Jenny und ich. Ich habe die Perspektive der Kinderlosen verdeutlicht, Jenny hat von ihren Erfahrungen als Mutter berichtet. Und obwohl wir so unterschiedliche Sichtweisen hatten, haben wir beide uns ähnlich berührt gefühlt von der bildhaften Sprache und der authentischen Charakterzeichnung von Mareike Fallwickl, durch diese man sich in jede:n einzelnen Protagonist:in einfühlen konnte. „Ich habe Helene vermisst, obwohl ich sie gar nicht kennen gelernt habe“, so Jenny.
Und selbst wenn die Wut in dem Buch zum Teil auch Unbehagen ausgelöst hat und es manchmal so schien, als würde Gleiches mit Gleichem vergolten werden können – so wurde mir auch bewusst, dass dieses Gedankenspiel, wenn Frauen plötzlich Wut und Aggressionen spüren und ausleben, vermutlich aufzeigen sollte: Dass genau das ungewohnt ist. Auch wenn Gewalt insgesamt zu verurteilen ist, so wirkt sie leider gewohnter und wird zu selten genug hinterfragt, sobald sie von Männern ausgeübt wird.
Wir beide haben noch einmal mehr gelernt, feministischer zu denken, traditionelle Denkmuster zu hinterfragen und so letztendlich eine Wut auf die Gesellschaft zu haben, die es zulässt, dass Familien in Krisenzeiten unsichtbar werden, dass Mädchen lieber hungern, damit sie einem Schönheitsideal entsprechen und Frauen und Männer traditionelle Rollenbilder als gegeben hinnehmen. Für uns beide ist es ein beeindruckendes Leseerlebnis voller Emotionen wie Trauer, Zusammenhalt und vor allem Wut gewesen. „Die Wut, die bleibt“ hat uns beide als Roman mehr als überzeugt und gehört bereits zu unseren jeweiligen Lesehighlights. Wer weiß, vielleicht wird es noch preisverdächtig?
Vielen Dank liebe Jenny für den Perspektivwechsel, für deine Unterstüzung bei diesem Beitrag und dass du so eine gute Freundin bist!
Wir empfehlen diesen Perspektivwechsel auch anderen, gerade dieses Buch kann so unterschiedlich gelesen werden, je nachdem, in welcher Lebensphase wir uns gerade befinden. Sucht euch eine Freundin oder auch einen Freund und auf geht’s!
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