Draußengeflüster: Ein Leserückblick auf den Juni 2023

Sonnenstrahlen, heiße Temperaturen und Eis schlecken: wir freuen uns, dass der Sommer da ist. Aber wir spüren auch, wie bei uns von Sommertag zu Sommertag die gelesenen Seiten weniger werden. Und ab und zu müssen wir uns dran erinnern, dass wir nur das schaffen können, was wir schaffen. Und das ist okay, denn stattdessen sind wir häufiger draußen unterwegs. Aber gerne auch mal mit Buch im Gepäck: Ein paar Seiten sind es also trotzdem geworden:

„Matrix“ von Lauren Goff (Aline)

Erschienen im September 2022 bei Ullstein

Nachdem wir letzten Monat das Genre der historischen Romane wieder für uns entdeckt haben, lege ich heute gleich mit einem weiteren nach: „Matrix“ von Lauren Groff vereint dabei zwei Themen auf eine ganz wunderbare Art und Weise. Der Roman spielt in England des 12. Jahrhunderts und wurde von Stefanie Jacobs aus dem Englischen übersetzt. Die Protagonistin Marie wurde durch eine königliche Vergewaltigung gezeugt und kommt in jungen Jahren an den Königshof. Für die Königin Eleonore von Aquitanien empfindet sie weit mehr als freundschaftliche Gefühle, denn Marie liebt die Königin mit jeder Faser ihres Körpers. Doch ihre Gefühle werden nicht erwidert. Im Gegenteil, mit 17 wird Marie vom königlichen Hof verstoßen und zur Priorin eines Klosters ernannt, da sie als nicht geeignet für eine Heirat erachtet wird. Das Kloster ist verarmt, die Nonnen fristen ihr Dasein, leiden Hunger und sterben wie die Fliegen. Bis Marie den Verlust der Liebe und des Status, der die Verbannung hinterlassen hat, überwindet und ihr Schicksal annimmt. Man könnte sagen, sie krempelt die Arme hoch, folgt ihrer Bestimmung und wird das Kloster zu Reichtum führen. Marie wird auf ihre Art als Herrscherin Einfluss erlangen, der weit über die Klostermauern hinweg gefürchtet sein wird. Lauren Groff erzählt die Geschichte einer Frau, die imposant, herzlich und mit einem klaren Ziel vor Augen durchs Leben lief. Sie erzählt einen feministischen Roman vor dem Schauplatz einer alles andere als feministischen Zeit. Sie erzählt aber auch von einer Heldin, die so etwas wie Macht erlangt und den sicheren Umgang damit erst noch erlernen muss. Ich bin in gefühlt einem Atemzug durch den Roman gerauscht und immer noch leicht berauscht. 

Das Buch ist ab Oktober 2023 als Taschenbuch erhältlich.


„Das blaue Kleid“ von Doris Dörrie (Aline)

Erschienen 2004 bei Diogenes

Nach „Die Heldin reist“ ist „Das blaue Kleid“ mein zweiter Roman von Doris Dörrie. Eine Autorin, zu der ich auch sicherlich noch viele weitere Male greifen werde, wenn mir ein Buch von ihr begegnet. Gerade die leisen Töne, humorvollen und feinen Beschreibungen des Lebens sind es, die mich begeistern. „Das blaue Kleid“ erschien bereits 2001 und obwohl der Roman von der Liebe, dem Leben und vor allem dem Tod handelt, ist es eine leicht zu lesende, fast tragisch komische Geschichte.

Alfred ist Modedesigner und sterbenskrank. Kurz vor seinem Tod kommt Babette in sein Geschäft und kauft ihm ein blaues Kleid ab. Zuvor hat Babette ihren Ehemann bei einem Unfall auf Bali verloren und trägt seit dem schwarz. Das blaue Kleid kommt zu einem Zeitpunkt in ihr Leben, als sie einen neuen Mann kennenlernt. Sich auf eine neue Liebe einlassen, fällt Babette und ihrem neuen Partner jedoch nicht so leicht. Eines Tages klingelt es an Babettes Tür und Florian, der Lebenspartner von Alfred, dem Modedesigner steht vor der Tür. Unter Tränen bittet er Babette, ihm das blaue Kleid für eine Gedenkmodenschau zu überlassen, denn Alfred ist in der Zwischenzeit verstorben. Trotz der schmerzhaften Situation entsteht eine schöne Freundschaft zwischen Florian und Babette, die beide in ihrer jeweiligen Situation, dem Übergang von Tod zum Leben und zu einer neuen Liebe, stecken. Sie sind einander eine Stütze, wohnen für eine Zeit zusammen, fahren gemeinsam in den Urlaub und genießen das Leben und finden so zurück in das Leben. Beide lassen es zu, miteinander zu trauern und gewinnen dadurch die Kraft, sich auf neue Partner einzulassen. Ein schöner Roman über das Leben und all seinen Höhen und Tiefen. Habt ihr noch weitere Empfehlungen von Doris Dörrie für mich?

„Realitätenhandlung“ von Lisbeth Exner (Aline) *

Erschienen im September 2022 bei Elster & Salis

In einer Wiener Altbauwohnung steht eine Zwangsräumung an. Im Wohnzimmer treffen sich die verschiedenen Beteiligten. Der Vollstrecker, der Möbelpacker, der Schlüsseldienst, die demente Bewohnerin, das Bibliotheksgespenst und die Eigentümerin stehen sich wie Cowboys mit gezogenen Colts im Wohnzimmer gegenüber. Die Autorin Lisbeth Exner lässt tief in die Abgründe der Menschen blicken, die sich versammelt haben und hat diese in dem Büchlein „Realitätenhandlung“ aufgeschrieben.„Also weg mit der Mieterin. Bloß, wohin mit ihr? Einen Pflegeplatz kann sie ihr ja schlecht organisieren und schon gar nicht finanzieren. Aber ist sie der Unmensch, der diese demente Frau auf die Straße setzt? Wobei – die Bösen sind ja immer interessanter als die Guten. Und interessant will sie ja sein.“ (S. 94)

In dem dünnen Büchlein, geht die Autorin der Frage nach, was Eigentum eigentlich bedeutet, wie sehr es verpflichtet und wie viel vom Besitz am Ende von einem Leben übrige bleibt. Am Ende ist es der junge Mann vom Schlüsseldienst, der die Gruppe belehren muss, dass es bei der Zusammenkunft wohl kaum um die einzelnen und deren Gier, sondern immer um die an Demenz erkrankte Mieterin gehen sollte. Ein Kammerspiel mit einer Portion schwarzem Humor, nicht ohne einen gewissen Anspruch und auch ein bisschen rätselhaft kommt der Debütroman der Autorin daher. Dennoch versprüht er durch die wechselnden Perspektiven einen besonderen Charme.


„Freischwimmer“ von Gabriel Herlich (Aline) *

Erschienen im Februar 2023 im Pendragon Verlag

„Freischwimmer“ von Gabriel Herlich hat mich schon auf der Leipziger Buchmesse angelacht, doch hat es bis Juni Zeit gebraucht, dass ich mich wirklich darin vertiefen konnte. Sicher liegt es am Sommer, denn „Freischwimmer“ bringt nicht nur Freibadvibes mit, sondern auch Roadmovie-Stimmung. Das ganze jedoch vor einem ernsten Hintergrund, denn Donnie, der aus einer super reichen Familie stammende Protagonist, hat sich mit den falschen Freunden eingelassen. In der Schule von Gleichaltrigen wenig beachtet, erfährt er von seinen Mitbewohnern Alwin und Marlon das erste Mal, was Freundschaft sein könnte. Das Problem ist nur, dass die beiden Antisemiten sind und Donnie sich mit hineinziehen lässt, zum Mitläufer wird. Zum Beispiel wird er beim Schmieren von Hakenkreuzen erwischt und muss Sozialstunden leisten. Die verbringt Donnie in einem Hamburger Altenheim und kommt dabei das erste Mal mit dem Judentum in Berührung. Eine Liebesgeschichte entwickelt sich, ein Roadmovie beginnt, große Verzweiflung folgt auf große Gesten und schon ist er ausgelesen, der Roman. Dem Autor sei es verziehen, dass er manchmal die Klischees des naiven und reichen Jungen in meinen Augen zu doll durchscheinen lässt und mit der Erzählung insgesamt an der Oberfläche kratzt. Antisemitismus und die Entwicklung eines Ausgegrenzten zum Mitläufer, der erkennt, dass er falsch abgebogen ist und sich „freischwimmt“ ist ein starkes Motiv und lässt sicherlich noch etwas mehr Tiefgang zu. Gut erzählt ist der Roman aber alle Mal und durch die Erzählweise besonders auch für Teenager und junge Erwachsene geeignet.

„Astrologie“ von Liv Strömquists (Aline)

Erschienen im März 2023 im Avant-Verlag

Seid einiger Zeit liegt nun schon Liv Strömquists „Astrologie“ auf dem Stapel der Bücher, die ich euch unbedingt zeigen möchte. Sie schwedische Comiczeichnerin Liv Strömquist ist in meiner Wahrnehmung vor allem durch das feministische Graphic Recording „Der Ursprung der Welt“ bekannt geworden, in der sie die Kulturgeschichte der Vulva nachzeichnet. Im März hat sie ein neues Graphic Recording veröffentlicht, das sich auf humoristische und satirische Art mit Tierkreiszeichen beschäftigt. Und ja ich liebe Astrologie und alles was damit zusammen hängt. Natürlich kenne ich nicht nur mein Sternzeichen, sondern auch meinen Aszendenten. Und natürlich ist es klar, dass ich an einem Graphic Recording mit dem Titel „Astrologie“ nicht vorbeigehen kann, oder? Nachdem man sich durch alle Sternzeichen einmal durchgearbeitet hat, folgt natürlich das „allerwichtigste“ Kapitel: Wer passt eigentlich mit wem zusammen? Und klar ist, dass das mit Sicherheit nicht auf wissenschaftlichen Grundlagen basiert. Menschen sind natürlich viel komplexer als dass ein Geburtsdatum bestimmen kann, über welche Charaktereigenschaften man verfügt und mit welchem Sternzeichen zusammen passt. Aber, manchmal muss es ja auch nicht rational sein. Und das Buch von Liv Strömquist ist zudem mit wunderbaren Details und Zeichnungen sehr liebevoll aufbereitet. Gibt es noch weitere Astrologie interessierte hier? (Aline)

Außerdem gab es einige Blogartikel diesen Monat:

So dürfen wir Lesungen der Veranstaltungsreihe „Draußen im Grünen“ als Kooperationspartner begleiten:

„Draußen im Grünen“ in Planten un Blomen (Aline und Luise) *

**Unbezahlte Kooperation**

Mit dem Sommer beginnt auch die Zeit der Open-Airs, draußen im Grünen. Und wie cool ist das denn? Wir dürfen als Kooperationspartner die Veranstaltungsreihe „Draußen im Grünen“ im Planten un Blomen begleiten, was Lesen und Open-Air vereint. Neben einigen Konzerten, gibt es nämlich auch spannende Lesungen im Musikpavillon, wie die von:

📚 Jacqueline Scheiber zu „Ungeschönt“ am 22. August und
📚 Angelina Boerger zu „Kirmes im Kopf“ am 31. August.

Die beiden jungen Autorinnen zeigen auf, wie wichtig Diversität ist und dass wir vor allem auch darüber in der Öffentlichkeit sprechen. Sie machen deutlich, dass nun einmal jede:r auf seine Art normal ist, gerade mit den jeweiligen Unterschieden, sei es im Bereich Neurodiversität, aber auch in Puncto Sexualität und Körpergefühl. Mehr zur Veranstaltungsreihe und zu den Büchern findet ihr hier. Wen werden wir von euch sehen?

Weitere Lesungen und auch Konzerte findet ihr im Veranstaltungsprogramm.

Außerem war Luise im DDR-Museum Berlin und hat einen Museumbericht geschrieben, wobei sie das passende Begleitbuch zur Sonderausstellung rezensiert hat:

Ein Museumsbesuch im DDR-Museum (Luise)

Mir hat die Ausstellung auf Anhieb sehr gut gefallen, durch die ausgewogene Mischung aus Kuriosem und Informativem. Das Museum ist interaktiv angelegt. In den verschiedenen Zimmern einer „typischen“ DDR-Wohnung konnte man diverse Schränke und Schubladen öffnen, die als Informationstafeln dienten. So wurden immer auch Hintergründe kurz und knapp geschildert, durchaus mit kritischem Blick.

Das Begleitbuch „DDR-Alltag in 200 Objekten“ * bietet die Möglichkeit, noch einmal Details nachzulesen. Das Buch bildet vor allem eine wissenschaftliche, tiefgründigere Darstellung und gleichzeitig ist es ähnlich gut konsumierbar wie die Informationen in der Ausstellung. Es lässt mich noch einmal mehr für das Thema DDR-Alltag sensibilisieren. Letztendlich zeigen sowohl die Ausstellung, als auch das Begleitbuch, dass eine Darstellung der Alltagsgegenstände ohne kritische Analyse der politischen Umstände der DDR gar nicht möglich ist. Vielmehr ist der DDR-Alltag ein Spiegel des Systems. Mehr dazu hier.

Noch zwei weitere Sachbücher unter dem Hashtag #frauenlesen standen auf der Agenda:

„Equal Pay Now!“ und „Auch gut!“ (Luise) *

Folgende Bücher zeigen auf, weshalb wir Frauen mutiger werden dürfen, mal entgegen klassisch gesellschaftlichen Erwartungen zu handeln. Denn hier wird deutlich, wie vehement sich konservativ geprägte Narrative halten. Birte Meier behandelt das Thema Equal Pay in Deutschland, bzw. inwiefern Frauen weiterhin strukturell durch ungleiche Bezahlung benachteiligt werden. Sie berichtet von ihrem eigenen Fall als ehemalige Redakteurin im öffentlich rechtlichen Fernsehen. Jennifer Klinge spricht über Erwartungen an Frauen ab 30 und mit welchen Vorurteilen sie konfrontiert werden, vor allem wenn sie Single und/oder kinderlos sind.

📚„Equal Pay Now!“ von Birte Meier, erschienen im März 2023 im Goldmann Verlag
📚„Auch gut!“ von Jennifer Klinge, erschienen im März 2023 bei Paloma Publishing

Zu den ausführlichen Rezensionen geht es hier lang.


„Über den Tellerrand im Juni: Buchtitel und Cover (Luise) *

Unser „Über den Tellerrand“-Projekt steht diesen Monat unter dem Motto: „Lass dich vom Titel und/oder Cover eines Buchs inspirieren.“ Der griffige Titel „Idol in Flammen“, erschienen bei KiWi Juni 2023 sprach mich unmittelbar an. Als ich das Buch dann im Briefkasten liegen hatte und es auspackte, war ich zudem direkt vom Buchcover eingenommen: Es ist minimalistisch gestaltet und gleichzeitig auffällig und eindrucksstark. So verhält es sich auch mit dem Buch selbst, ist es immerhin sehr schmal mit nur 125 Seiten und weist dabei eine unglaubliche Tiefe auf, in Japan ist es bereits ein preisgekrönter Bestseller von einer jungen Newcomer-Autorin, Rin Usami. Dazu mehr im Blogbeitrag.

Ein Ausblick

Wir kommen so langsam in Urlaubsstimmung und sind bereits in unsere Reisepläne vertieft, deshalb wird es im Juli etwas ruhiger auf dem Blog werden. Ab August kommen wir dann beide mit neuer Energie und ganz viel neuem Lesestoff aus dem Reisegepäck zurück, versprochen!

*Bei den Büchern handelt es sich um Rezensionsexemplare.

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