Wenn ein Kapitel endet, beginnt ein neues: Unser Zurück- und Vorgeblätter 22/23

Couchgeflüster:
Ein Lese-Rückblick und ein Vorausblick

2022 – es schließt sich also erneut ein Kapitel. Es ist ein Jahr, das unserer Meinung nach von mutigen Menschen geprägt wurde: sei es in der Ukraine zur Verteidigung des eigenen Landes und auch die Ukrainer:innen auf der Flucht in ein fremdes Leben. Seien es die vielen wichtigen Fluchthelfer:innen, unter anderem in Deutschland. Oder sei es im Iran, entbrannt von der Wut der iranischen Frauen, was eine ganze Bewegung auslöste. Sei es im Pflege- und Gesundheitssystem, als dass Corona dieses Jahr immer noch präsent war, auch wenn die Nachrichten bereits von anderen Schicksalsschlägen überrannt wurden. Um nur einige Beispiele zu nennen. Und auch wenn die Pandemie nun kurz vorm Jahreswechsel offiziell für beendet erklärt wurde und wir lernen mit Corona („endemisch“) zu leben, so zeigt sich auf der Weltbühne immer wieder: Wir müssen mit den Herausforderungen unserer Zeit leben, aber wir müssen auch optimistisch bleiben und denen Ehre zollen, die mutig bleiben.

Bei Aufgeblättert schließt sich genauso wieder ein Kapitel. Das Besondere für uns in diesem Jahr? Unser Literaturblog ist stolze fünf Jahre alt geworden. Daher haben wir unseren jährlichen Themen-Schwerpunkt auf dieses erste Jubiläum gelegt und uns überlegt, inwiefern der Blog uns geprägt hat – welche Bücher oder Autor:innen es gab, die wir ohne den Blog nicht entdeckt hätten, wie sich unser Leseverhalten verändert hat oder welche Herausforderungen auch das Bloggen mit sich bringt, zwischen Lesen als Spaß und einem Hobby als semi-professionelles Vorhaben, z.B. durch Kooperationen und Zusammenarbeit mit Verlagen.

So ist beispielsweise Aline bei ihren Jahreshighlights 2022 bewusst geworden, dass diese von Büchern jeweils von Frauen geschrieben wurden. Auch Luise hat hier beschrieben, dass vor allem starke Autorinnen ihr durch das Bloggen neu begegnet sind. Im Laufe des Jahres dazugekommen ist für sie noch Dörte Hansen mit „Altes Land“ und „Mittagsstunde“, vor allem aufgrund des besonderen Blicks für die Eigenheiten nordischer Dorfgemeinschaften und Familien.

Aufgeblättert in Zahlen

Insgesamt haben wir 79 Bücher gelesen (Luise 32, Aline 47)
14 Bücher haben wir gehört (Luise 13, Aline 1)
Bücher insgesamt: 91 Bücher
Blogbeiträge: 31
Instagrambeiträge: 123 Posts
ca. 2100 Follower auf Instagram

Entsprechend war es bei all den vielen und gleichzeitig besonderen Büchern wieder nicht leicht und trotzdem wagen wir es und stellen nun kurz und knapp unsere jeweiligen drei Jahreshighlights vor:

Drei Jahreshighlights von Luise

Luises 3 Lesehighlights 2022

Ein Sachbuch, das zu unserem Jahres-Schwerpunkt 2022 passt: So habe ich durch den Blog Bücher über die Nachwendezeit für mich entdeckt, die mir immer auch ein Stück über mich verraten.

Nullerjahre von Hendrik Bolz

Knieper West – ein klassisch ostdeutsches Plattenbau-Viertel fernab von dem Stralsund auf Postkarten mit pittoresker Altstadt und sehenswertem Hafen: Hier spielt das Buch „Nullerjahre“, die Geschichte von Hendrik Bolz‘ Jugend von Zugezogen Maskulin in der Nachwendezeit. Man begleitet Hendrik durch eine trostlose Jugend, einerseits mit gelernten Glaubenssätzen und gewaltvoller Realität mittels Nazi-Kult, der in Teilen des Ostens ungestört gedeihen kann. Andererseits mit einsetzendem Verstand macht sich Hendrik vertraut mit neuen Gesellschaftsideen und der Rap-Kultur, von denen er sich stärker angesprochen fühlt. Hendrik Bolz verschönt nichts, hält nichts geheim. Das Buch ermöglicht, Ostdeutschland ein Stück weit zu verstehen, welches manchmal anders zu ticken scheint. 

Ein Roman als wichtige Neuerscheinung, die viel über unsere „moderne“ Gesellschaft verrät.

„Die Wut, die bleibt“ von Mareike Fallwickl

Mir fehlen die Worte. Denn ich kann kaum in Worte fassen, welche Emotionen das Gelesene bei mir auslöst. Da ist so viel Wahres drin, trotz einer fiktiven Handlung wirkt der Roman real, durch das Schicksal dreier Frauen während der Corona-Pandemie, deren unterschiedliche Wut zusammen zu einem Vulkanausbruch führt. Und dieser zeigt vor allem eines: Was es in unserer Gesellschaft heißt, Frau zu sein. Denn es bedeutet häufig leider noch, in die Schublade gesteckt zu werden, alles sein zu dürfen, aber bitte nicht wütend. Dabei spüre ich die Wut auf jeder Seite. Ich habe noch einmal mehr gelernt, feministischer zu denken, traditionelle Denkmuster zu hinterfragen und so letztendlich eine Wut auf die Gesellschaft zu haben, die es zulässt, dass Familien in Krisenzeiten unsichtbar werden und Frauen und Männer traditionelle Rollenbilder als gegeben hinnehmen.

Ein Backlist-Titel, der mich positiv überrascht hat.

„Reise durch ein fremdes Land“ von David Park

„Reise durch ein fremdes Land“ lebt vom Setting des verschneiten Großbritanniens, von lebhaften Naturbeschreibungen. Als Fotograf sieht Tom nämlich die durch den Winter zum Erliegen gekommene Welt um sich herum wie durch die Linse seiner Kamera. Schon immer scheint er sein Leben auf diese Art betrachtet zu haben: „Die Leute verstehen nicht, was ein Foto ist. Sie glauben, es würde den Augenblick einfrieren, dabei befreit es ihn aus der Zeit“. Ich bin mitgerissen von der Atmosphäre und dem Erzählstil des Buchs. Es ist keins voll Weihnachtsglamour als vielmehr eines über Verlust und Zusammenhalt.

Drei Jahreshighlights von Aline

Alines 3 Lesehighlights 2022

Ein Roman aus einem unabhängigen Buchverlag, der lange nachhallt.

„Gestapelte Frauen“ von Patricia Melo

Allein in Deutschland wird an jedem dritten Tag ein Femizid, also der Mord durch einen der Frau nahestehenden Mann, begangen. Das erschreckende an dieser Statistik ist, dass Täter und Opfer sich kennen und oft eine Familie sind. Zufallstaten oder sexuelle Übergriffe sind da noch nicht eingerechnet. Diesem Thema nähert sich die Autorin, Patricia Melo, auf ihre ganz besondere Art und Weise. Sie verwebt echte Fälle, die die Kapitel einleiten, in eine Kriminalhandlung. Gleichzeitig taucht die eher rational erscheinende Protagonistin tief in das mystische Brasilien der alten Völker ab. Es entsteht dadurch ein intensiver Roman, der auch Monate später in mir nachhallt und mich für das Thema Femizid nachhaltig sensibilisiert hat.

Ein Backlist-Titel, der brisanter nicht sein könnte.

„Reality-Show“ von Amélie Nothomb

In dem Roman von 2009 erzählt die Autorin eine Reality-Show nach, in der ein Sender ein Konzentrationslager inszeniert. Das Publikum darf vom Sofa aus mitspielen und jeden Tag mit einem Klick auf die Fernbedienung zwei Gefangene auswählen, die zum Tode verurteilt werden. Die Gefangenen wurden zuvor zufällig auf der Straße ausgewählt, gekidnappt und in das Konzentrationslager gebracht. Auf so vielen Ebenen macht mich der Roman fassungslos und fasziniert mich zugleich. Neben den Parallelen zur NS-Geschichte, schießen Assoziationen über Sendungen wie das Dschungelcamp, Big Brother und Co. in meinem Kopf kreuz und quer. „Ein Buch ist ein Zünder, mit dem man die Leute zum Reagieren bringt“, steht als treffendes Zitat der Autorin im Klappentext. Vor allem ist es sehr mutig erzählt.

Ein Ausblick auf unser Schwerpunkt-Thema 2023: Ein für mich unbekanntes Genre, die Fabel, die viel über Freundschaft und den Kern unserer Gesellschaft erzählt.

„Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“ von Noemi Somalvico

Können wir uns kurz ein Schwein aufrechtgehend vorstellen, das sich mit einem Dachs und Gott als Dreiergespann auf die Suche nach dem Jenseits begibt? Naomi Somalvico, die Autorin des schmalen Fabelromans, erzählt fein, „saukomisch“ und oft auch zum Nachdenken anregend diese wunderbare Geschichte, die Spielraum für Gedankenspiele ermöglicht. Vor allem aber geht es um Freundschaft – um Freunde, die auch in schwierigen Situationen füreinander da sind und aufeinander achtgeben. Möglicherweise habe ich in der Schule das letzte Mal eine Fabel gelesen und bin begeistert von diesem Büchlein, mit dem Naomie Somalvico diese Form der Literatur für mich aus dem Jenseits in das Diesseits zurückgeholt hat.

Ein Überraschung für euch

Ohne euch, unsere Mitleser:innen wäre es keinesfalls möglich, dass unser Blog bereits so lange besteht. Deshalb wollen wir gerne etwas zurückgeben. Jeweils eines unserer Jahreshighlights stehen zur Verlosung aus: „Nullerjahre“ von Hendrik Bolz und „Gestapelte Frauen“ von Patricia Melo. Alles was du tun musst, um in den Lostopf zu hüpfen?:

  • Schreibe eine Mail an buch@aufgeblaettert.de
  • Nenne im Betreff das Stichwort Verlosung und welches Buch du gerne gewinnen möchtet, also zum Bsp: Verlosung Nullerjahre oder Verlosung Gestapelte Frauen
  • Wer sich nicht für ein Buch entscheiden kann, der schreibt einfach im Betreff die Stichwörter Verlosung und Egal. Damit erhöht ihr natürlich auch eure Gewinnchance 😉
  • Das Gewinnspiel endet am 15. Januar 2023 um 23:59 Uhr.

Und nun ein Blick nach vorne: Was erwartet uns 2023?

Denn morgen beginnt bereits das Kapitel 2023! Wir haben uns nach dem einen oder anderen diesjährigen Experiment entschieden, mehr über den Tellerrand zu schauen, also auch mutiger bei der Auswahl unserer Bücher zu werden. Die Fabel „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“ von Aline als Favorit zeigt es bereits: neue Buchgenres ausprobieren kann Wunder bewirken. Und auch während des NDR-Sachbuchpreis, den wir als Bloggerinnen mit der Vorstellung eines Longlist-Buches begleiten durften, sind wir auf Bücher aufmerksam geworden (Hier geht’s zum Beitrag) die wir von den Themen oder Meinungen der Autor:innen her so sonst nicht gelesen hätten. Also warum nicht einmal öfter ein Buch in die Hand nehmen, das wir sonst nicht lesen würden? Vielleicht hat jemand unter euch einen Tipp? Denn immerhin kennt ihr unseren Geschmack nach fünf Jahren Buchtipps sicher schon ganz gut :-)!

Jetzt wünschen wir euch einen guten Rutsch ins neue Kapitel 2023, mit Mut, Zuversicht und jeder Menge neuen Büchern!

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