Die Macht der Generationen: Ein Roman und ein Sachbuch über unser emotionales Erbe

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Wie sehr Traumata- und Katastrophenerfahrungen auch nachfolgende Generationen beeinflussen können, darüber hatte ich vor Jahren das erste Mal in einer Zeitschrift gelesen. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Geschichte eines Großvaters, der einen großen Brand nur knapp überlebte und dessen Enkel bis heute immer wieder Albträume hat, in denen er droht zu verbrennen. Damals forschten Wissenschaftler unter anderem an Mäusen, die bei der Futtergabe Stromstößen ausgesetzt wurden. Zwei Mäuse-Generation später zeigte sich, dass die Enkel vor dem Geruch von Verbrennungen, der bei Stromstößen entstand, zurückschreckten.

Dieses Thema fesselt mich insgesamt immer wieder, so freute es mich sehr, im Frühjahrsprogramm zweier Verlage Bücher zu finden, die sich auf ihrer Art und Weise mit dem Thema Erbe beschäftigen und welche Erfahrungen die Generationen vor uns an die nachfolgenden weitergeben. Ich versuche mich dem Thema aus zwei Perspektiven zu nähern, einmal aus einer Sachbuchperspektive und zum anderen aus einer Romanperspektive.

1. Perspektive: Das Sachbuch

„Emotionales Erbe“ von Galit Atlas

Erschienen bei Dumont im Februar 2023, übersetzt von Monika Köpfer

Dr. Galit Atlas ist Psychoanalytikerin und klinische Supervisorin. Sie hat zudem eine private Praxis in Manhattan und ist Fakultätsmitglied des New York University Postdoctoral Program in Psychotherapy and Psychoanalysis. Neben drei Fachbüchern und zahlreichen Artikeln hat die israelischstämmige Autorin jetzt „Emotionales Erbe“ veröffentlicht. In drei Teilen: „Unsere Großeltern“, „Unsere Eltern“ und „Wir selbst“ nähert sie sich anhand von vielen Fallbeispielen dem emotionalen Erbe, das tiefenpsychologisch und epigenetisch auf uns wirkt. Die Fallbeispiele sind echt, die Protagonisten so weit verändert, dass eine Bezugnahme zur Realität nicht möglich ist. Dennoch ist es eindrücklich, all die Geschichten über Familiengeheimnisse zu lesen, die daran hindern, jemandes volles Potenzial auszuschöpfen. Oder wie die Vergangenheit einer Großmutter, unterbewusst durch ihre traumatische Fluchterfahrung eine Familie auseinanderbringt. Galit Atlas stellt jedoch nicht nur die Fälle vor, sondern untermalt sie mit persönlichen Erfahrungen ebenso wie mit fachlicher Einschätzung. Ebenso wie über die Klienten erfahre ich als Leserin also auch etwas über die Psychoanalytikerin, die mich biografisch in ihr Leben lässt. Ein Unikum, denn eigentlich sollten Patienten keine persönlichen Dinge über ihre Analytikerin wissen, wie die Autorin zugibt. Vermutlich ist es gerade dieser Mix aus Persönlichkeit und Wissenschaft, der den Text so interessant macht. In einfachen Worten erklärt Galit Atlas wie „wir unser psychologisches Erbe verstehen und überwinden können.“ (Julie Rosenfeld). Möglicherweise kann sich durch das Lesen dieses Buches das Verständnis, warum das eigene Leben so verlaufen ist, wie es eben verlief, erhöhen. Dass unser Leben mit den Erfahrungen der Generationen vor uns verknüpft ist, die uns wiederum vor ihren (negativen) Erfahrungen schützen wollen. Ich bin psychologisch interessiert, verfüge aber über keine Ausbildung in diesem Bereich. Dennoch schafft es die Autorin komplexe Inhalte verständlich wiederzugeben. Gerade kriegerische Auseinandersetzungen hinterlassen tiefe Wunden, wie auch immer wieder in den Fallbeispielen erkennbar und so hoffe ich, dass das Verständnis wächst, über Traumata – auch über Generationen hinweg – sprechen zu können und das dieses Buch ein Anstoß sein könnte. Nicht nur, aber besonders in kriegerischen Zeiten.


2. Perspektive: Der Roman

„Siegfried“ von Antonia Baum

erschienen bei Ullstein im Februar 2023

Eine Frau – Autorin, Mutter und Versorgerin der Familie, fährt eines Morgens anstatt auf die Arbeit in die Psychiatrie. Sie fühlt sich ausgebrannt, erschöpft und hilflos. Das Leben wächst ihr über den Kopf, denn sie weiß nicht, wie sie den nächsten Text schreiben soll, mit dem sie das dringend benötigte Geld verdient, das die Familie benötigt. Im Wartezimmer der Psychiatrie blickt die Icherzählerin zurück auf ihr Leben. Da sind die Sommer, die sie bei der Mutter ihres Stiefvaters Siegfried verbringt. Hilde ist eine sehr strenge Frau, die ihren Sohn und später die Stieftochter mit Selbstdisziplin und weniger mit emotionaler Liebe prägt, ein Erziehungsstil der möglicherweise durch die Kriegsgenerationen geprägt wird. Siegfried ist wohlhabend, hat einen guten Job, doch statt emotionaler Liebe erhält die Icherzählerin Geld von ihm, muss jedoch auch ständig um seine Aufmerksamkeit und mit den Rollenbildern, die er ihr vermittelt, kämpfen. Sein emotionales Erbe gibt er weiter an seine Stieftochter. Sie versucht aus dem Traumata herauszubrechen, indem sie mit Alex zusammen kommt. Alex ist so ganz anders als Siegfried, er ist Musiker, arbeitet in einer Bar und macht sich vermeintlich wenig aus Statussymbolen. Jedoch fühlt sie sich auch sehr zu Benjamin hingezogen, ihrem Lektor, der in seiner Persönlichkeit starke Ähnlichkeit zu Siegfried aufweist und sie, wie der Stiefvater, nie so ganz an sich heranlässt. Schon vor, aber auch während ihrer Beziehung mit Alex, wird sie eine Affäre mit Benjamin haben. Zu dem Zeitpunkt, als sie in die Psychiatrie geht, wird sie von den drei Männern verlassen: Von Benjamin, der lieber mit der jungen Debütautorin anbandelt. Von Alex, dem sie ihre Affäre gesteht und vor allem von Siegfried, der nicht mehr auf ihre Textnachrichten reagiert. Der Roman hallt lange nach und es hat mich vor allem begeistert, den Inhalt im Nachgang zu analysieren und mir besonders über die emotionalen Verbindungen Gedanken zu machen. Ganz so, als würde ich mit der Autorin Antonia Baum ein küchenpsychologisches Gespräch führen. Dabei ist es besonders interessant zu beobachten, wie Antonia Baum Verbindungen generationsübergreifend wie Fäden miteinander verwoben hat, die aber auf dem ersten Blick nicht ersichtlich erscheinen. Besonders dieser auf dem ersten Blick nicht ersichtliche Aspekt der Geschichte hat mich fasziniert.

Fazit

Gerade der Roman „Siegfried“ von Antonia Baum lässt sich auch aus einer anderen, möglicherweise feministischeren Sichtweise lesen*. Mit meiner vorherigen Leseerfahrung von Galit Atlas „Emotionales Erbe“ sehe ich jedoch starke Parallelen, fast könnte man meinen, ich lese eine weitere Fallbesprechung. Alles ist mit allem verbunden. Wenn wir das wissen und erkennen, dann kann es ein erster Weg sein, Traumata und negative Erfahrungen zu überwinden und zu heilen. Auf professionelle Hilfe sollte in jedem Fall, wenn möglich, zurückgegriffen werden. Diese Bücher können Psychoanalytiker oder -therapeuten mit Sicherheit nicht ersetzen. Was sie aber können, ist das Bewusstsein für unser emotionales Erbe zu erweitern und aufzuklären.

Vielen Dank an die Verlage für das Bereitstellen der Rezensionsexemplare.

*Ich denke besonders an den Roman „Die Wut die bleibt“ von Mareike Fallwickl. In ihrem Roman beendet die überarbeitete Mutter ihr Leben, in dem sie sich aus dem Fenster stürzt. In „Siegfried“ erhält die Protagonistin weder Unterstützung durch ihren Partner noch durch andere.

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