Über den Tellerrand: Literatur mal anders

Für unseren letzten Blick über den Tellerrand nähern wir uns unserem Lieblingsgenre, der zeitgenössischen Literatur. Ihr fragt euch, inwiefern wir so über den Tellerrand blicken? Indem wir Bücher rausgesucht haben, die das Genre mal anders angehen, unkonventioneller. Zum einen handelt es sich wohl um die schwerste Rubrik, indem es nicht leicht zu bestimmen ist, ab wann zeitgenössische Literatur wirklich „anders“ ist. Zum anderen ist es etwas ganz Besonderes, da wir unser vermeintlich bekanntes Genre mit einem neuen Blick betrachten:

Über den Tellerrand „Literatur mal anders“

„Der Hausmann“ von Wlada Kolosowa (Aline)

Erschienen 2022 bei leykam

Irgendwo am Stadtrand von Berlin beziehen Thea und Tim ihre neue Wohnung. Er bleibt zu Hause, macht den Haushalt und arbeitet an seiner Graphic Novel über den Klimawandel. Sie fängt ihren neuen Job als Social-Media-Managerin bei einem veganen Hundefutter Start-Up an, kommt spät und geht wieder früh aus dem Hause, verdient das Geld für den gemeinsamen Haushalt. Neben Thea und Tim wohnt noch Maxim im Haus, ein 19-jähriger Geflüchteter aus der Ukraine, dem Tim in Deutsch Nachhilfe gibt; Sowie Dagmar, die 80-jährige fühlt sich allein, wird von ihrem Sohn selten besucht und fängt einen Blog mit Spartipps an. Der Roman gibt mir viele Berlin-Vibes und so ziemlich jedes gängige Klischee tropft aus den Seiten heraus, das im Zusammenhang mit Berlin wohl bedient werden könnte. Und auch wenn die Story wenig interessant erscheint, bietet „Der Hausmann“ von Wlada Kolosowa einige Wendungen, die nicht unbedingt vorhersehbar sind. Was das Buch schlussendlich aber wirklich besonders und in meinen Augen anders macht, ist die Ausarbeitung des Textes. Während Tims Perspektive als klassischer Fließtext geschrieben wurde, ist Theas Perspektive rein als Chatverlauf zwischen ihr und der HR-Chefin zu lesen. In Dagmars Gedankenwelt tauchen wir durch ihre Blogartikel ab, Maxims mittels Tagebucheinträge. Unterbrochen werden die wechselnden Perspektiven durch das Graphic Recording an dem Tim arbeitet – wunderbar illustriert von Raúl Soria. Ein echter Perspektivwechsel ist also unmittelbar möglich und die Idee, eine Geschichte mittels verschiedener Formen zu erzählen, begeistert mich nachhaltig.

Literatur mal anders: „Hausmann“

Zu diesem Fund wurde Aline inspiriert vom Podcast Zwei Seiten mit Mona Ameziane und Christine Westermann. Folgenden Roman hat Luise letztes Weihnachten von Aline geschenkt bekommen, als wir uns jeweils ein Buch passend zu unserem Schwerpunkt 2023 schenken wollten. „Schlaflos“ ist eine Empfehlung von Stories! in Hamburg, mit dem Hinweis, dass über den Tellerrand auch bedeuten kann, Literatur mal anders anzugehen. Eine Buchhändlerin war also impulsgebend für unsere letzte, ganz besondere Rubrik. Vielen Dank!

„Schlaflos“ von Sarah Moss (Luise)

Erschienen 2022 im Unionsverlag, übersetzt aus dem Englischen von Nicole Seifert

Der Roman spielt auf einer isolierten, schottischen Insel. Die Protagonistin Anna lebt hier mit ihren zwei Kindern und ihrem Mann Giles, der am liebsten Vögel beobachtet. Anna arbeitet an ihrer Forschungsarbeit im Bereich Kindheits- und Erziehungswissenschaften. Doch sie wird stetig unterbrochen – sei es durch Stromausfälle oder aber vom Alltag, wie dem Haushalt oder eines ihrer Kinder, die Aufmerksamkeit benötigen. Bis ein verstörender Fund ihren Blick auf die Geheimnisse der Insel lenkt, ein Skelett von einem Säugling, begraben auf ihrem Grundstück. Es scheint Anna einerseits einmal mehr von ihrer eigentlichen Arbeit abzulenken, zum anderen bringt es sie tiefer in den eigentlichen Kern ihres Forschungsgebiets. Immerhin gab es Jahrzehnte lang eine, im Vergleich zum Festland, signifikant höhere Sterblichkeitsrate auf der Insel. Was hat es damit auf sich? Und von wem stammt das Skelett?

Die Fragen lassen mich neugierig dranbleiben. Immer mal wieder werden Hinweise eingestreut, vor allem durch Briefe aus vergangenen Zeiten. Dennoch tappen die Leser:innen lange im Dunkeln, da seitenweise dahingehend wenig passiert. Vielmehr sind es Beschreibungen aus dem Alltag von Anna, die vorherrschend sind, beispielsweise wenn sie nächtelang wachbleibt, da die Kinder die Nacht zum Tag machen. Etwas genervt davon erscheint mir der Roman zwischenzeitlich zäh, bis ich in einem Zwischenfazit mit Aline den eigentlichen Kern des Buch zu begreifen vermag. Denn vielleicht ist es genau das Ziel des Buches: wir sollen live dabei sein, in dem Alltag einer Mutter, die eigentlich emanzipiert und selbständig ist, dennoch in den konservativ geprägten Gesellschaftsstrukturen gefangen bleibt, da die Care-Arbeit bei ihr als Frau hängen bleibt. So wie Anna dadurch immer wieder von ihrer Forschungsarbeit und auch von ihren Nachforschungen zum Fund betreffend abgelenkt wird, so werden auch wir als Leser:innen aufgehalten. Ein Stilmittel, das genial ist. Als sollte ich bewusst irgendwann genauso genervt sein wie die Mutter selbst. So verstehe ich auch die Andersartigkeit des Romans. Persönlich hätte ich mir mehr eingestreute Wissenschaftskrimi-Elemente gewünscht, um am Ball zu bleiben. Auch auf ein paar Seiten weniger wäre die Botschaft deutlich geworden. Nichtsdestotrotz finde ich es von der Idee her einen gelungenen Roman, der gesellschaftskritisch und zudem sehr gut recherchiert ist.

Literatur mal anders: „Schlaflos“

Fazit

Bevor das Jahr sich dem Ende neigt, zunächst noch einen Gesamtrückblick auf unser Schwerpunkthema 2023: „Über den Tellerrand“. Dieses hat uns in die Welt der Krimis und Thriller entführt, aber auch die der Fantasy eröffnet. Liebe und Romance waren ebenso dabei wie historische Romane und Lyrik. Aline hat Sachbücher neu für sich entdeckt und Luise war von ihrem Cover-Leseprojekt begeistert. Ein buntes und wildes Potpourri an unterschiedlichen Themen, die wir alle in diesem Jahr für uns (wieder-) entdecken durften. Unsere letzte Rubrik „Literatur mal anders“ bildete dabei die Kür, indem wir unser Lieblingsgenre noch einmal aus einem neuen Blickwinkel betrachtet haben; also ein wahrer Blick über den Tellerrand.

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