Buchtipps zu 30 Jahre Deutsche Einheit: Fokus Nachwendezeit und deren Generation

„Noch ein Jubiläum?! Hatten wir das nicht letztes Jahr schon?“

Ja! Und ich muss zugeben, es löst wieder Gänsehaut bei mir aus. Verrückt.

Mit dem Mauerfall und dem Tag der Deutschen Einheit verbinde ich etwas, dass sich schwer beschreiben lässt: Es sind Emotionen, die nicht durch Erfahrungen herrühren, aber mehr aus der Situation heraus, dass mir diese Erfahrungen als gebürtige Ostdeutsche und als Nachwendekind hätten passieren können – und sie meiner Familie zum Teil passiert sind. Jedes Mal genieße ich es, dass ich es feiern kann, dass Deutschland wiedervereint ist. Und ich kann es überall feiern: sogar in einer Stadt in „Westdeutschland“, in Hamburg!

Meine Roman- und Sachbuchtipps zum Thema Nachwendezeit

Über die DDR haben wir vermutlich schon viel gehört, wurden als Y- und Z-Generation mit dem Thema in der Schule konfrontiert. Vielleicht habt ihr dazu auch schon letztes Jahr einige Fachartikel und Bücher gelesen. Sicher ist dieses Thema dennoch keineswegs auserzählt. Vieles bleibt im Dunkeln, wird verschwiegen.

Ich wollte dennoch mal eine andere Perspektive suchen und mich mehr mit der Zeit danach beschäftigen. Diese ist nämlich noch wenig erforscht. Eine Zeitspanne von Dreißigjahren ist prädestiniert, um über die Spätfolgen und Entwicklungen zu sprechen. Es soll in meinem Beitrag um die Nachwendezeit, aber genauso um deren Generation gehen: gerade weil die Nachwendegeneration scheinbar nichts mit der DDR mehr am Hut, aber sehr wohl den Umbruch danach miterlebt hat. Sie ist die Generation, die nun erwachsen ist und den Osten neu prägen kann: Wie nimmt diese Generation die Vergangenheit war, die sie nicht erlebt, aber deren Nachwehen gespürt hat? Wie wurde diese Generation durch die Nachwendezeit geprägt?

Hier kommt meine Lektürenauswahl als Überblick. Dabei kommen sowohl Bücher vor, die ich bereits in den letzten Monaten besprochen habe, aber auch neue Tipps werden dabei sein:

Romantipps

1000 Serpentinen Angst – von Olivia Wenzel (S. Fischer Verlage)

Dieses Buch stand dieses Jahr sogar auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Der Roman ist eigen. Er ist künstlerisch. Es findet sich keine Ereigniskurve, und dennoch ein roter Faden: Es sind die Gedanken, die die Protagonistin begleiten. Sie diskutiert sogar weitestgehend mit ihnen. In dem Buch werden wichtige Themen angesprochen, die zwar etwas mit dem Holzhammer daherkommen durch den Fakt, dass es sich bei der Hauptperson um eine lesbische, ostdeutsche Frau mit schwarzer Hautfarbe handelt. Umso deutlicher wird damit jedoch aufgezeigt, wie wir noch immer durch Schubladen geprägt sind und was es bedeutet, gleich mehreren marginalen Gruppen anzugehören. „1000 Serpentinen Angst“ gibt uns zudem, wenn auch eher beiläufig, Einblicke in die Nachwendezeit und das aus der Perspektive einer Frau, die sich nicht immer akzeptiert gefühlt hat. Die ihren Zwillingsbruder verliert und es nicht gleich mitbekommt, weil sie zum Snackautomaten auf dem Bahnhof gehen musste.

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Die Farbe Gelb scheint beliebt beim Thema Nachwendezeit. Weil im Osten die Sonne aufgeht? 😉

Am Rand der Dächer“ – von Lorenz Just (Dumont Verlag)

„Am Rande der Dächer“ liest sich wie eine Biographie, wenn es auch eine fiktive Geschichte ist. Sie ist aus der Perspektive eines Kindes der Wendezeit geschrieben. Im Fokus steht ein zerfallenes, abgebranntes Haus in Ostberlin – Anfang der 90’er Jahre. Dieses Haus kann man als Sinnbild verstehen, indem es die Atmosphäre der Zeit widerspiegelt. Zum einen ist es zerfallen – ein Relikt aus der DDR. Zum anderen kann es stellvertretend für die DDR stehen, die durch den Fall der Mauer buchstäblich zerfallen ist. Das Haus steht gleichzeitig auch für unbegrenzte Möglichkeiten. Es wurde von Punks besetzt und für ihre Definition von Freiheit verwendet. Es ist eine wunderbare Metapher, die mich dazu bewogen hat, das Buch zu lesen. Allerdings hätte mir persönlich von der Story her noch mehr passieren können.

Ursprünglich hatte ich nur auch etwas anderes erwartet, nämlich keine biographische Erzählung. Wenn man sich der Geschichte annimmt, kann man sie auch anders erleben: aus der Sicht eines Kindes, das die Nachwende aktiv erlebt hat. Da passiert nicht immer viel Spektakuläres. Und man erfährt, wie Berlin aus einer „begrenzten“ Stadt zum Synonym für Freiheit wurde.

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Sachbuchtipps

Nachwendekinder – von Johannes Nichelmann (Ullstein Fünf)

Zu meinen Jahreshighlights Sachbücher 2020 gehört wohl schon jetzt „Nachwenderkinder“. Johannes Nichelmann, der Autor, ist Journalist. Zum Beispiel hört man ihn wöchentlich beim Deutschlandfunk Kultur Podcast „Lakonisch Elegant“ über Aktuelles aus Popkultur, Gesellschaft und Philosophie (sehr empfehlenswert!). Für das Buch scheint der Autor akribisch recherchiert zu haben, hat sich mit Wissenschaftlern, aber auch Nachwendekindern, also junge Zeitzeugen der 90er, der Nachwendezeit, getroffen. Es zeigt aber genauso seine persönliche Geschichte. Mich hat es bewegt und in meine eigene Biographie reisen lassen. Mehr dazu in meiner Rezension.

Ostbewusstsein – von Valerie Schönian (Piper Verlag)

Hierzu auch nur kurz und knapp: Denn hier hatte ich ein sehr aufschlussreiches Interview mit der Autorin und ZEIT-Journalistin, die aus der gleichen Heimatstadt stammt wie ich: Magdeburg. Auch ihr Buch thematisiert die Situation der Nachwendekinder. Darf man ein bestimmtes Ostbewusstsein haben? Darf man den Osten prinzipiell in höchsten Tönen loben? Und was kann die Nachwendegeneration tun, damit der Osten attraktiver wird? Mehr dazu findet ihr in dieser Buchbesprechung.

„Vom Sinn unseres Lebens“ – von Michael Nast (Edel Books)

Michael Nast hat zum einen die Wende aktiv erlebt, da er zu dem Zeitpunkt des Mauerfalls 14 Jahre alt war. Aber genauso hat ihn die Nachwendezeit geprägt, in der er erwachsen wurde. Streng genommen kann man ihn wohl deshalb eher ein Wendekind nennen, aber in seinem Buch geht es vor allem auch um die Umbrüche der Nachwendezeit und wie diese den Osten und Westen unterschiedlich geprägt haben. Ihr findet die Buchbesprechung eingewebt in meinem Kommentar zum Jahrestag 30 Jahre Mauerfall, am 09. November 2019.

Das Treuhand-Trauma – von Yana Milev (Eulespiegel Verlag)

Und zu guter Letzt stelle ich euch noch ein fachwissenschaftliches Sachbuch vor: Dies beschäftigt sich mit einer der am kontrovers diskutiertesten Institutionen, die die unmittelbare, wirtschaftliche und auch politische Situation nach der Wende prägte. Die Treuhand, eine Anstalt, die erst gegründet wurde, „um das Eigentum des Volkes der DDR zuverlässig zu schützen“, aber kurze Zeit später durch ein Treuhandgesetz dazu diente, die verstaatlichten Unternehmen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu privatisieren. Sie steht im Verruf, etliche Unternehmen nicht gerettet zu haben, obwohl es doch möglich gewesen wäre. Dabei setzt die Autorin das Thema in einen umfassenden Kontext: Können wir überhaupt von einer „Deutschen Einheit“ sprechen oder war es nicht vielmehr ein Überstülpen der westlichen Werte und politischen Grundsätze?

„Das Inkrafttreten der Gesetze der BRD und ihre Überleitung in das Gebiet der DDR bestätigte einen Anschluss, dem prinzipiell die Nichtanerkennung des DDR-Staates in allen Elementen und die Nichtanerkennung der DDR-Gesellschaft in allen Bereichen vorausging. Die vorsätzliche Desintegration von DDR-sozialisierten Ostdeutschen in Gestaltungspartizipation, Dialog, Erhalt, Teilhabe, Wertschätzung, gesellschaftlicher Gleichstellung, Vermögensausgleich, Würde sowie vertragliche Enteignung, Entrechtung und Entwertung ab 1990 trug sukzessive zu einem unüberbrückbaren Ost-West-Konflikt in der deutschen Gesellschaft bei. „

In dem Buch wird ein kontroverses Thema sehr anschaulich, aber auch kritisch aufbereitet und bietet damit einen aufschlussreichen Blick auf die Nachwendezeit aus wirtschaftspolitischer Perspektive. Aber vor allem ist es erfrischend provokativ.

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Fazit

Und nun zurück in die Gegenwart. Nun scheint die Nachwendegeneration die Zukunft für ein neues Ostbewusstsein gestalten zu können und darf diesbezüglich noch Geschichte schreiben. Aber nun erst einmal auf 30 Jahre Deutsche Einheit! Cheers.

Weiterführende Linktipps:

Otto-Brenner-Stiftung: Studie 2019 zur Nachwendegeneration

Bundesverband Deutscher Stiftungen: 30 Jahre Deutsche Einheit. Wo wir zusammengewachsen sind und was uns noch trennt

Bundeszentrale für Politische Bildung: Deutsch-Deutsche IDentitäten der Nachwendegeneration

Deutschlandfunk Nova „Dein Sonntag“ – Überraschungsgast: Jeannette Grusko von Dritte Generation Ost

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