Der September fühlt sich oft wie ein Zwischenmonat an, nicht mehr wirklich Sommer, aber genauso noch nicht Herbst. Die letzten Sonnenstrahlen werden genutzt, aber auch der gemütliche Lesesessel ruft abends und am Wochenende immer lauter.
Zugleich war es ein Monat, in dem wir beide beruflich sehr eng eingebunden waren und häufig weniger zum Lesen kamen, als wir es uns wünschten. Nahmen wir dann doch ein Buch in die Hand, schien es der dringend benötigte Ausgleich zum stressigen Alltag.
Podcast – Dein Book Blind Date
Konntet ihr eigentlich schon in unsere aktuelle Podcastfolge reinhören? Falls nicht, lüften wir hier das Geheimnis, denn in dieser Folge stellt Luise – passend zum Herbstwetter – das Buch mit folgendem ersten Satz vor: „Es regnet und stürmt. Unfreundlich sei es da draußen, hat die Nachbarin gesagt, die schon mit ihrem Hund spazieren war, hat vom unfreundlichen Draußen gesprochen, als sei das Draußen ein mürrischer Mensch“. In dem Essay „Der Trost der Schönheit“ von Gabriele von Arnim geht es um Vergänglichkeit, vor allem aber auch um die Sinnhaftigkeit des Schönen und Kleinen.
Neben unserem Blind Date sprechen wir in unserem Speed Date übrigens gemeinsam über Caroline Wahls „22 Bahnen“ und „Windstärke 17“, aber weniger über den Inhalt (mehr dazu unter den Verlinkungen), sondern wir versuchen den Bestseller-Code zu knacken, ob uns das gelingt? Hie geht’s direkt zur Folge.
Die nächste Folge erscheint kommenden Freitag.
Essays – für eine literarische Pause zwischendurch
Essays erfreuen sich derzeit besonderer Beliebtheit, auch bei uns, wenn wir so darüber nachdenken: Sachliche Themen werden, neben den wissenschaftlichen Referenzen, vor allem mit persönlichen Erfahrungen und Gedanken unterfüttert und erlebbar. Zudem haben die Texte meist einen literarischen Schreibstil, weshalb sie sehr erzählerisch und kurzweilig sind, zugleich aber Tiefgang haben. Womöglich liegt es aber auch daran, dass Essays oft höchstens um die 200 Seiten zählen, also ein netter Gedanken-Snack in der schnelllebigen Gesellschaft sind. Die kleine literarische Pause für zwischendurch sozusagen. Hier kommen unsere Buchtipps – Bücher, die uns berührt haben, aber auch zum Nachdenken bringen:
📖Volker Kitz „Alte Eltern“, ein Essay darüber, wenn Eltern schleichend älter werden und man sich fragt, wann genau es nicht mehr alleine geht. Mit einer unglaublich bildhaften Sprache, die unter die Haut geht.
📖Mely Kiyak „Dieser Garten“
📖Mariana Leky „Kummer aller Art“
📖Gabriele von Arnim „Liebe Enkel. Oder die Die Kunst der Zuversicht“
📖Daniel Schreiber „Zuhause“
📖Elke Heidenreich „Altern“, ein starkes biografisches Essay in der die Autorin auf ihr Leben und das Älterwerden blickt. Dabei bleibt sie immer ganz nah bei sich und besticht durch ihre ungeschöhnte und ehrliche Sprache.
Romane – Kurz zusammengefasst
Aus der Perspektive von fünf Frauen erzählt die Autorin Sanam Mahloudji in Die Perserinnen* die generationsübergreifende Geschichte der einst zu der wichtigsten Familien des Iran zählenden Valiats. Sprachlich hat der Roman Aline herausgefordert, ebenso das abgedrehte Luxusverhalten der Protagonistinnen, doch klingt zwischen alldem auch leise eine Geschichte über Identität und Herkunft an.
Blue Sisters* ist der zweite Roman von Coco Mellors, der Aline leider nicht überzeugen konnte (entgegen Cleopatra und Frankenstein). Zu dünn erschien ihr die Aufarbeitung des tragischen Tods von Nicky durch eine Überdosis und die zwischenmenschliche Beziehung aller Schwestern. Aus dem amerikanischen Englisch von Lisa Kögeböhn.
Der Ich-Erzähler in Lea Catrinas Roman Waldbad* wirkt in seiner Ausdrucksweise salopp. Doch hinter seinen flotten Sprüchen, seiner Hilfsbereitschaft und dabei stets freundlichen Art verbergen sich auch Nöte und Sorgen. Ausgelöst werden diese durch Touristen, die sein Heimatdorf in den Schweizer Bergen unweit von Zürich erobern. Für Aline ein Roman zum Schmunzeln und Nachdenken.
Doro möchte ein Kind, und das am liebsten mit ihrer Wahlfamilie: Rafa, Antonia und Chris. Doch für Chris stand schon früh fest, keine Kinder haben zu wollen, auch keines gemeinsam aufzuziehen. Statt in den Dialog zu gehen, flüchtet Chris und meldet sich bei ihrer ehemaligen WG viele Jahre nicht mehr. Sechs Jahre später setzt der Debütroman Furchen und Dellen* von Ela Meyer ein, der sich nicht nur mit alternativen Familienmodellen, der Suche nach einer Heimat und der bewussten Entscheidung kinderfrei zu bleiben, auseinandersetzt, sondern für Aline auch Themen wie Wechseljahre geschickt einwebt.
Pi mal Daumen * von Alina Bronsky steht auf der Shortlist für das „Lieblingsbuch“ der unabhängigen Buchhandlungen. Sie zeichnet in dem Roman liebevolle Figuren und schreibt mit viel Wärme über eine besondere Freundschaft. Eine weitere Botschaft des Romans: Mathematik als Fach, in dem die Frage der sozialen Herkunft weniger eine Rolle spielt, unter anderem da es keinen NC gibt. Letztendlich zähle die richtige Lösung. Und dennoch wählen immer noch zu wenige Frauen naturwissenschaftliche Studienfächer, trauen sich nicht, unter anderem da die Vorbilder fehlen. Umso schöner für Luise das Bild der älteren Moni, für die es nicht zu spät ist, sich ihren Traum vom Mathestudium, zu erfüllen.
Roman-Highlight von Luise:
Zitronen von Valeria Frisch
Erschienen bei Suhrkamp im Februar 2024
„Zitronen“ von Valerie Fritsch lässt mich sprachlos zurück. Gleichzeitig könnte ich wohl stundenlang über dieses Buch sprechen: über August, der in seinen Kindheitsjahren Opfer wird, durch die Gewalt seines Vaters, aber auch aufgrund der Liebe seiner Mutter, indem sie ihm Medikamente ins Essen mischt und ihn krank macht. Dieser Roman zeigt, wie schnell Liebe gefährlich und mit Abhängigkeiten verwechselt werden kann, gleichzeitig wie prägend Kindheitserinnerungen sind. August tritt in die Spirale von Lügen, die Geborgenheit und Liebe vorgaukeln. Im erwachsenen Alter, als er sich zwar aus den Fängen der Mutter befreien kann, wird er aber selbst zum Lügner und verliert gänzlich den Blick für die Realität, auch in Bezug auf die Liebe.
„Mit der Wahrheit nahm er es schon lange nicht mehr genau: Sie bedeutete nichts, und sie bedeutete ihm nichts. Nun, da er erwachsen war, genoss er die Macht der Lügen, denn wer lügt, entscheidet für den anderen, bestimmt für die Länge eines Satzes, wie dessen Welt aussieht“.
August baut sich eine eigene Realität auf, eine Fassade, die jedoch Risse erhält. Sein Leben liegt in Scherben, ähnlich wie übrigens die Zitrone auf dem Cover, beim genaueren Hinsehen. „Zitronen“ ist ein wortgewaltiger Roman, dessen kunstvolle Sprache beeindruckt, aber auch Distanz schafft zwischen dem Lesenden und den Protagonisten. So musste ich zwar etwas warm werden mit dem Stil der Autorin, gleichzeitig ist es genau dieser distanzierte, düstere und zugleich kunstvolle Charakter des Romans, der ihn für mich einzigartig macht. Er zeigt, wie tief die Abgründe des Lebens sein können, wenn man nur genauer hinter die scheinbar intakten Fassaden sieht. Ein Schein, der trügt, wie auch das anfangs friedlich wirkende Cover mit der knallgelben Zitrone.
Verdient nominiert für den Österreichischen Buchpreis! Alle Daumen sind gedrückt, kommende Woche wird die Shortlist bekannt gegeben, am 18. November findet die Preisverleihung statt.
Roman-Highlight von Aline:
Sex & Rage von Eva Babitz
Erschienen bei S. Fischer Verlage im Juni 2024
Mit Sex & Rage* Jacaranda wächst am Strand von Los Angeles in den frühen 1970er Jahren auf. Flower-Power und die Hippie-Bewegung sind auf ihrem Höhepunkt, gefühlt ist alles möglich. So auch für Jacaranda, die jung, schön und verführerisch ist und auf Anhieb von jedem gemocht wird. Sie wird zur Muse, Geliebten und Freundin von Mitgliedern der Kultur- und Filmszene, geht bei den Schönen und Reichen ein und aus, wie es ihr beliebt. Drogen und Alkohol werden zu jedem Anlass und bald auch, ohne dass ein Anlass notwendig ist, konsumiert. Der Strudel, in den Jacaranda hineingerät, dreht sich irgendwann nur noch abwärts, bis ihr Talent für das Schreiben entdeckt wird und sie in New York einen Ort findet, an dem sie clean wird sowie eine Aufgabe, das Schreiben. Der Plot von „Sex & Rage“ ist damit bereits auserzählt, doch was den Roman ausmacht, ist weniger ein vielschichtiger Plot als die Stimmung, die Eve Babitz in ihrem Roman vermittelt. Das Leben, die Leichtigkeit, die Gefahren, der Glamour und Glitzer werden von ihr durch eine lockere und unverblümte Sprache erzählt, die den Roman besonders erlebenswert macht. Gleichzeitig wird uns Leserinnen und Lesern die Objektivierung von Frauen durch Männer der damaligen Zeit vor Augen geführt, jedoch weniger mit einem erhobenen Zeigefinger als vielmehr auf eine beobachtende Art und Weise, die am Ende die Frage stellt, wer wen benutzt. Eve Babitz erzählt das Leben eines It-Girls der 1970er und fortfolgenden Jahre und gehört dabei zu einer der aktuellen Wiederentdeckungen, denn der stark autobiografisch geprägte Roman „Sex & Rage“ erschien erstmals bereits 1979. Weitere Neuerscheinungen folgen hoffentlich, denn ich würde gerne noch mehr von der Autorin lesen. Aus dem amerikanischen Englisch von Hanna Hesse.
Außerdem war Luise diesen Monat für uns auf der Launch Party von pola in Köln, ein neuer Verlag, der sich auf die spezifischen Themen und Lebensrealitäten junger Frauen spezialisiert, und übrigens zudem wohl nur Autorinnen verlegt. Das Event war ein Wohlfühlmoment, mit Gleichgesinnten: ein Raum, in dem sich junge Frauen (aber nicht nur) verstanden fühlen, ein Safe Space – wie es auch die Bücher versprechen.
Insofern sind die nächsten Herbst-Lesestunden bereits gesetzt! Wir bedanken uns beim Verlag für die Einladung zur Launch Party.
*Rezensionsexemplare, wie bedanken uns bei den Verlagen für die Bereitstellung der Bücher.